Ich bin eine Nomadin
Gefühl, der Schlüssel zur letzten Chance auf Erlösung, die mein Vater vor dem Grab noch hatte, liege in ihrer Hand. Sie beschloss zu handeln.
Vielleicht dachte sie, wenn sie Gutes tue, würden auch ihr die Sünden vergeben. Vielleicht war es auch so, dass sie ihn wirklich liebte. (Das sage ich mir.) Vielleicht hatte sie, die Tochter eines angesehenen Richters unter den Nomaden, sich ihr Moral- und Gerechtigkeitsempfinden erhalten. Vielleicht ging es ihr auch nur um Macht. Egal, was sie antrieb: Meine Mutter beschloss, sich wie seine anderen Ehefrauen auch am Sterbebett meines Vaters zu Wort zu melden. Das bewerkstelligte sie allerdings anders als diese, denn sie beschwatzte Magool, die Tochter ihrer jüngeren Schwester, für sie ins Krankenhaus zu gehen und ihm eine Nachricht zu überbringen.
Ich weiß nicht genau, wie es dazu gekommen war, aber Magool hatte sich mit meiner Halbschwester Sahra angefreundet. Von Sahra erfuhr sie, in welchem Krankenhaus mein Vater lag und auf welcher Station. Dort überbrachte sie ihm die Botschaft meiner Mutter. Anders als ich sprach sie ihn nicht sofort an, sondern saß ein paar Minuten schweigend neben ihm, ehe sie seinen Namen flüsterte. Er öffnete die Augen, so erzählte mir Magool, und hob den Kopf ein wenig an, um zu sehen, wer da war. Sie blickte ihm in die Augen und sprach dann die Worte, die sie, wie von meiner Mutter gewünscht, auswendig gelernt hatte:
Lieber Onkel Hirsi, ich bin hier im Namen von Asha Artan Umar, meiner Tante und der Mutter deiner Kinder. Sie möchte dir mitteilen, dass sie dir alles vergibt, was zwischen euch beiden vorgefallen ist. Sie ersucht um deine Vergebung für jegliches Fehlverhalten auf ihrer Seite und wünscht dir einen leichten Übergang ins Jenseits. Meine Tante betet hingebungsvoll für deine Aufnahme ins Paradies und Allahs Barmherzigkeit von jetzt an bis zu dem Zeitpunkt, da du Ihm gegenübertrittst.
Ich fragte Magool, wie Abeh reagiert habe.
»Ich weiß nicht, ob er mich gehört hat«, antwortete sie. »Er hob eine Sekunde lang den Kopf und sank dann zurück ins Kissen. Er schloss kurz die Augen und öffnete sie dann wieder. Ich vermute, er hat es gehört. Zumindest habe ich das deiner Ma gesagt.«
»Was hast du ihr denn genau gesagt?«
»Dass er mich gehört hat. Ich sagte, ich hätte erkennen können, dass er mich verstanden hat. Ich bin mir nicht ganz sicher, dass es so war, aber sie ist alt und einsam, und es wird ihr guttun zu wissen, dass der Vater ihrer Kinder ihre Nachricht erhalten hat.«
Wenn ich an meine Mutter zurückdenke, sind meine Gedanken selten versöhnlich, doch mir war klar, wie viel ihr das bedeutete, und das erleichterte auch mich. Egal, was Ma dazu veranlasst hatte: Ihre Nachricht an meinen Vater war wohlwollend und kam zur rechten Zeit, und ihr verhalf sie mit Sicherheit zu innerem Frieden.
Eines Nachmittags, kaum eine Woche nach dem Tod meines Vaters, rief Magool bei mir an.
»Ayaan, abaayo.« Sie verwendete ein Kosewort, das so etwas wie »liebe Schwester« bedeutet.
»Ja, abaayo, meine Liebe, was ist?« Gab es wohl wieder schlechte Nachrichten?
» Abaayo, Ayaan …«
»Mhm, abaayo Magool.«
» Abaayo, Ayaan.«
» Abaaayyo. Jaaa.« Langsam klang ich gereizt.
»Würdest du mir einen Gefallen tun, abaayo ? Bitte, abaayo ?«, fragte mich Magool. »Nur dieses eine Mal?«
» Abaayo, was willst du denn?«
»Bitte, abaayo, sagst du erst Ja?«
Ich zögerte. Ich hatte keine Ahnung, worum mich Magool bitten würde, und wollte nichts versprechen, was ich dann nicht halten konnte. Aus Erfahrung wusste ich zudem, dass somalische Verwandte gern um Geld, Einwanderungspapiere, Menschen- und Warenschmuggel bitten, oder besser gesagt, Forderungen stellen. Erst wollen sie nur drei Tage bleiben, und dann wird man sie nicht wieder los. Solchen Forderungen gehen meist Koseworte wie »liebe Schwester« oder »liebe Cousine« oder andere somalische Wörter speziell für alle möglichen Verwandtschaftsbeziehungen voraus.
»Es kommt darauf an, abaayo «, sagte ich deshalb. »Ich sage Ja, wenn dein Anliegen nicht gefährlich für mich ist, wenn es legal ist und wenn ich es mir leisten kann.«
Magool lachte. »Kein Problem, abaayo .«
Jetzt packte mich doch die Neugier. »Also?«
» Abaayo, ruf deine Mutter an.«
Ich schwieg ein paar Sekunden und rang nach der richtigen Antwort. Als ich sprach, kamen die Worte so leise, dass mich Magool bat, sie zu wiederholen. »Magool, ich weiß nicht, ob Ma noch mit mir reden
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