Ich bin eine Nomadin
Telefonkontakt zu meinem Vater und meiner Mutter. Entgegen meinen Befürchtungen schien Ma in ihrem Dorf in Puntland aufzublühen. Das Geld, das ich ihr schickte, reichte für ihren Lebensunterhalt. Manchmal teilte sie es mit ihren Verwandten. Ihre Nichten brachten ihr in Eimern und Kanistern Wasser aus Brunnen in der Nähe, sie fegten ihren Hof, holten ihr Holzkohle und kochten für sie. Sie sagte, sie sei nie allein. Abends saß sie mit ihrem Bruder, ihren Schwestern und deren Kindern zusammen, und sie redeten über ihre Kindheit und ihre so unterschiedlichen Lebenswege, über den Bürgerkrieg und das, was sie an ihren Geburtsort zurückgeführt hatte. Rings um sie herum waren Wüste, Gebüsch, Schafe und Staubpisten, auf denen Händler mit Lastwagen kamen und ihnen Zucker, Reis und andere Grundnahrungsmittel brachten.
Ma erklärte mir, Mahad sei krank, weil Suban ihn verhext habe. Manchmal sagte sie auch, er sei von unserer Stiefmutter, der ersten Frau meines Vaters, verhext worden.
Immer wieder war Mahad längere Zeit im Krankenhaus, und noch längere Zeit verkroch er sich in einem Zimmer in Eastleigh, wo er kaum für sich selbst sorgte, geschweige denn für sein Kind. Abeh berichtete, Suban sei wütend und allein und habe den kleinen Jungen, gerade mal zwei Jahre alt, zu ihm, Abeh, nach Qardo an der Nordspitze Somalias geschickt. Der Junge reagierte zunächst auf den Namen Abdullahi, doch sobald er bei meinem Vater war, wurde er Ya'qub gerufen. Ich beschloss, ihn Jacob zu nennen. Ich bat meinen Vater, ihn nach Nairobi zurückzuschicken, damit er auf eine richtige Schule gehen konnte. Und tatsächlich überredete Abeh Suban irgendwann, zu kommen und den Jungen mitzunehmen.
Zwischen 2001 und 2006 brach mein Familie jeden Kontakt zu mir ab. Ich hatte keine Ahnung, wie es Mahads kleinem Sohn ging: Ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt zur Schule ging. 2006 allerdings stellte ich den Kontakt zu Mahad wieder her, der immer noch in Eastleigh, dem Somali-Viertel in Nairobi, lebte. Sein Gesundheits- und Geisteszustand war instabil. An manchen Tagen wirkte er ganz normal, an anderen halluzinierte er und sagte, er höre Stimmen. Dann verließ er nur selten das Bett. Obwohl er und Suban geschieden waren, schaute sie regelmäßig bei ihm vorbei, wusch seine Kleider, kochte für ihn und rief Verwandte zu Hilfe, wenn Mahad einen psychotischen Schub hatte.
Bei unserem ersten Telefonat nach Abehs Tod klang Mahads Stimme ganz fremd – verwaschen und schleppend, als ob seine Zunge zu groß für seinen Mund sei. Unser erstes Gespräch nach langer Zeit war ein einziger endloser Monolog – ich hatte ihn im Stich gelassen, er war mir egal, das ist der Preis des Erfolgs, er entfremdet dich deiner Familie, er entfremdet dich deiner Religion –, eine unendliche Liste von Vorwürfen. Die beiden konkreten Dinge, die er von mir wollte, waren Geld (das ich schickte) und ein Visum, mit dem er nach Amerika auswandern konnte (das ich nicht schickte).
Mahad wollte einfach nicht einsehen, dass er psychisch krank war. Ich fragte, ob er in Behandlung sei, flehte ihn an, doch zu einem Arzt zu gehen und sich Medikamente zu besorgen. Doch er beharrte darauf, dass mit ihm alles in Ordnung sei. »Ich rede nur mit mir selbst, das ist alles«, sagte er. »Ich lege mich oft hin und ruhe mich aus. Aber sie lesen den Koran über mir, und dann geht es mir besser.«
Ich kannte diese Prozedur. Eine Gruppe von Menschen liest Abschnitte aus dem Koran, spuckt in ein Eimerchen mit Wasser und bespritzt den Patienten damit. Oder sie spucken nach jedem Abschnitt auf seine Bettdecke – keine großen Tropfen, sondern einen feinen Speichelregen. Es ist eine ganz besondere Bewegung, bei der die Zunge schnell wieder im Mund verschwindet, nachdem sie ein bisschen Speichel versprüht hat.
Ich fragte nach Jacob. Er sei gut in der Schule, sagte Mahad, es gehe ihm gut, er sei gesund und munter. Ich versuchte ihn mir vorzustellen, als Zehnjährigen, nur ein bisschen älter als der Sohn einer befreundeten Familie. Wahrscheinlich war er groß wie sein Vater und hatte starke Knochen wie seine Mutter. Ich glaube, in meiner Fantasie war Jacob derjenige, dem es gelingen würde, die einengenden Fesseln unserer Familie und des Glaubens zu zerbrechen und die Erfolge zu erzielen, die seinem Vater und Großvater versagt geblieben waren.
Doch bald würde Jacob ein Teenager sein. Und ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie schrecklich Mahad in seinen Jugendjahren in Nairobi
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