Ich bin eine Nomadin
sie hatte schon Angst, dass ihr Babybauch sie verraten würde – bekam sie die Chance, mit einem falschen Pass nach Großbritannien zu reisen, wo sie, wie alle anderen auch, Asyl beantragte. Ein paar Monate nach ihrer Ankunft brachte sie ein Mädchen zur Welt.
Das alles wusste ich durch die normalen Nachrichtenkanäle unter uns Somalis, genau wie ich schon gehört hatte, dass Ladan qat kaute, die berauschenden Blätter, über die meine Mutter sich in Äthiopien solche Sorgen gemacht hatte. 1998, als ich ebenfalls in Europa lebte, besuchte ich Ladan, und sie erzählte mir die entsetzlichsten Geschichten. Ich hörte von einem Gewerbe in den verborgenen Winkeln einiger Viertel von Mogadischu, wo Frauen anderen Frauen, die sich einen »Fehltritt« geleistet hatten und das nötige Geld bezahlten, die Vagina zunähten. Eben diese Frauen schnitten gegen Gebühr auch eine Braut auf, wenn deren Narbe nach einer Genitalverstümmelung in der Kindheit so dick war, dass ihr Ehemann sie nicht gewaltsam öffnen konnte. (Oft geschieht das wie schon die Genitalverstümmelung ohne Betäubung.) Sie machen auch heimliche Abtreibungen und helfen Babys auf die Welt, die als wa'al, Bastarde, gelten. Diese Kinder und ihre unverheirateten Mütter haben wirklich Furchtbares zu erdulden.
Als ich Ladan besuchte, lebte sie ohne Mann, ihre Tochter Su'ad war etwa fünf Jahre alt. Su'ad hatte Übergewicht, einen Sprachfehler, konnte irgendwie nicht gerade gehen, und in ihren Augen spiegelte sich eine ständige Angst. Ladan brüllte sie an, verfluchte sie und schlug sie manchmal. Su'ad war einsam und erzählte mir, sie habe keine Freundinnen. Die Kinder in der Schule wollten nicht mit ihr spielen, sie machten sich hinter ihrem Rücken über sie lustig und nannten sie eine fette Kuh. Die Lehrer beachteten sie nicht weiter. Ladan hatte das alles entweder nicht mitbekommen oder war nicht der Ansicht, dass es wichtig sei.
Jetzt, 2008, war Su'ad ein Teenager, und Ladan, so erzählte mir Magool, war wieder schwanger, von einem anderen Mann. In Anbetracht dessen, was ich sonst von Ladan wusste, fragte ich, ob sie denn für ein weiteres Kind bereit sei, schließlich lebte sie noch immer von Sozialhilfe. Magool ist jünger als ich, doch ihre Antwort klang, als käme sie aus dem Mund einer alten Frau, die schon viel mitgemacht hat. »Lebensplanung ist nicht gerade Ladans Stärke«, seufzte sie.
Magool berichtete auch, dass Ladan jetzt völlig von qat abhängig sei. Su'ad, ein Teenager, wächst also in einem Umfeld von Abhängigkeit, Missbrauch und emotionaler Vernachlässigung auf. Vielleicht hat sie ein ähnliches Schicksal zu erwarten wie ihre Mutter. Natürlich kann man sich selbst aus dem Sumpf ziehen, aber eine gute Ausbildung und ein glückliches Leben sind für sie unendlich schwer zu erreichen. Und für den Fall, dass sie nach Somalia »zurückkehren« würde – ein völlig falscher Begriff, obwohl alle Somalis ihn benutzen, denn Su'ad ist in Großbritannien zur Welt gekommen und hat die britische Staatsbürgerschaft –, würde sie es dort nicht lange aushalten. In Somalia herrscht überall dieselbe Einstellung, die auch der Clan meiner Großmutter vertritt, und Su'ad wird nicht einmal den niedrigsten Standards meiner Großmutter gerecht: Sie ist ein wa'al, ein Bastard.
Magool erzählte mir auch die Geschichte einer anderen Cousine von uns namens Anab, die 2006, kurz vor mir, nach Amerika gegangen war. Sie war jünger als ich, und ich hatte sie nie kennengelernt, aber schon viel von ihr gehört – wie wir alle: Angeblich hatte sie irgendwo in Kenia oder Tansania, wo sie als Flüchtling lebte, ihren Ehemann niedergestochen und getötet.
Ein Cousin, Hassan, hatte sich ebenfalls in den Vereinigten Staaten niedergelassen. Er war fromm, bescheiden und gutmütig und arbeitete als Taxifahrer. Fast jeden Cent, den er verdiente, schickte er der Familie. Sein Vater war inzwischen fast siebzig, aber er heiratete ständig neue junge Frauen und hatte über vierzig Kinder.
Hassan unterstützte viele der Kinder und ihre Mütter. (Auch, wenn sie schon erwachsen waren – in Somalia gibt es wenig Jobs und eine hohe Arbeitslosigkeit. Weil sie nie etwas Richtiges gelernt hatten, verdienen die meisten seiner Geschwister wenig oder gar nichts und hatten auch keine Visa.) Außerdem hatte Hassan Einwanderungsvisa für einige von ihnen beantragt, die als Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten kommen wollten. Ich hatte Mitleid mit ihm. Wie Farah Gouré, der
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