Ich bin eine Nomadin
verdorben geworden war – wie er Jahre vergeudet hatte, die er lernend auf der Highschool hätte verbringen sollen. Ich wusste, dass in Eastleigh jetzt überall radikalislamische Zellen aktiv waren und die Benachteiligten und Unzufriedenen um sich scharten – viel mehr und viel aktiver als damals, als Mahad und ich jung waren.
Trost fand ich in einem Gespräch, das ich einmal mit Suban führte. Wie immer wollte sie Geld, aber sie bat mich auch, ihr Kleider zu schicken. Als ich sie fragte, was sie brauche, verlangte sie Röcke und Blusen. Das ließ mich hoffen, denn wenn sie sich in einen Dschilbab hüllen würde, bräuchte sie solche Kleider nicht.
Ich begann, Mahad und auch Suban Geld zu schicken. Als Jacob mit der Grundschule fertig war, schickte ich einen Freund nach Nairobi, um eine wirklich gute Schule – eine Schule mit einer Bücherei und Labors und guten Lehrern – für ihn zu suchen, und bezahlte die Schulgebühren.
Das funktionierte sehr gut, bis heute besucht Jacob diese Schule. An den Tagen, an denen Mahad nicht zu depressiv oder zu manisch ist, zeigt er ein gewisses Interesse an seinem Sohn. Er hat mir berichtet, dass der Junge in der Schule sehr gut ist. Sein Lesen, sein Englisch, seine soziale Kompetenz seien herausragend.
Für mich ist wichtig, dass Jacobs Weg in die Moderne nicht so steinig ist wie der von Mahad damals. Seine Situation zu Hause kann ich nicht beeinflussen. Ich kann sie mir nur vorstellen – konfuse Befehle, nostalgische Träume vom Nomadenleben, Warlords als Helden und eine kräftige Dosis Islam. Wahrscheinlich lernt er, seine Waschungen vorzunehmen, auf einer Matte zu stehen, sich nach Mekka auszurichten und fünfmal am Tag zu beten. Und auch von Sünde, Hölle und Jenseits hat man ihm sicher schon erzählt.
Ich habe keine richtige Strategie, wie ich Jacob schützen könnte. Vergeblich habe ich Suban zu überreden versucht, ihn zu mir zu schicken, damit er in einer westlichen Umgebung aufwachsen kann. Alle meine Hoffnungen für ihn ruhen jetzt auf seiner Schule. Ich hoffe, dass sie ihm dort beibringen werden, Vertrauen in das Leben zu haben, wie es jetzt und hier auf der Erde ist, und ihm helfen, Fähigkeiten zu entwickeln, mit denen er in der Moderne zurechtkommt. Ich möchte, dass er Denker und Autoren entdeckt, die ihn lehren, wie kompliziert das Leben ist – dass es voller schwieriger Situationen ist und dass die Kunst des Lebens darin besteht, für sich selbst einen Weg durch all die Schwierigkeiten zu finden. Es geht im Leben nicht darum, das eigene Versagen beim Umgang mit Schwierigkeiten auf andere zu projizieren, den eigenen Hass zu nähren und sich dann entweder in Selbstzerstörung zu stürzen oder andere auszulöschen, die erfolgreicher waren als man selbst.
Jacobs Zukunft lässt aus meiner Sicht hoffen – sie ist bescheiden, von nicht so vielen Helden bevölkert, und vielleicht hält sie auch mehr Einsamkeit bereit als jene Zukunft, die man meinem Bruder ausgemalt hatte. Aber dafür ist sie menschenwürdiger.
Kapitel sechs
MEINE COUSINS UND COUSINEN
In den Monaten nach dem Tod meines Vaters stand ich in ständigem Kontakt zu meiner Mutter und Mahad und erlebte mich plötzlich dabei, wie ich mithilfe meiner Cousine Magool nach Neuigkeiten von weiteren Familienmitgliedern forschte. Es war keine reine Höflichkeit, dass ich mich nach ihnen erkundigte. Ich hatte mich auf eine physische wie mentale Reise von der Stammeskultur hin zur Kultur des Westens begeben, doch jetzt war es, als habe sich wieder eine Tür geöffnet zur Welt hinter den Spiegeln, aus der ich kam. Ich musste unbedingt zurückschauen und herausfinden, was aus meinen Verwandten geworden war – vielleicht auch, um zu verstehen, was meine familiären Wurzeln aus mir gemacht hatten.
Magool erzählte mir zunächst von unserer Cousine Ladan, die ein Jahr jünger war als ich. Meine Großmutter beschimpfte sie immer als das böseste Kind, das ihr je untergekommen sei, und ermahnte mich, unbedingt Abstand zu ihr zu halten, nicht mit ihr zu spielen und mir vor allem niemals ihren Dickkopf anzueignen.
Nach dem, was die Somalis schlicht qabta nennen, »die Apokalypse« – der Beginn des großen Exodus aus dem bürgerkriegsgeplagten Land im Dezember 1990 –, flohen Ladan und ihre Mutter nach Kismayo und weiter nach Kenia, wo Ladan schwanger wurde. Sie wusste nicht, wo sie eine illegale Abtreibungsklinik finden konnte, und hatte kein Geld für ein richtiges Krankenhaus. Doch genau in dem Moment –
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