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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Clanälteste in Nairobi, der meiner Mutter – und zahllosen anderen somalischen Flüchtlingen – jahrelang geholfen hatte, brachte er sich, so fand ich, um die Früchte seiner Arbeit, schröpfte sich selbst, um die uferlosen Bedürfnisse anderer zu stillen.
    Als Anab ihren Ehemann umgebracht hatte, bat die Familie Hassan, doch etwas zum Blutgeld für die Familie ihres Opfers beizusteuern. Der Clan muss aus Gründen der Ehre kollektiv für das Verbrechen seiner Angehörigen zahlen. Dann flehten sie ihn an, Anab nach Amerika zu holen, damit sie nicht der Rache der Familie ihres Ehemanns zum Opfer fiel und um eine mögliche Blutfehde zwischen den Clans zu verhindern.
    Von meinem westlichen Standpunkt aus hatte ich Mühe zu verstehen, was ich da hörte. Doch von meiner alten Stammesmentalität her war es vollkommen einsichtig. Nach der Scharia, die Teil des somalischen Clangesetzes ist, kann man einen Mord auf drei Arten sühnen: Entweder kann man eine Kette von Rachemorden in Gang setzen, die Generationen überdauern und sogar zum Bürgerkrieg führen kann. Oder die Familie des Täters muss der Familie des Opfers Geld, Vieh oder eine oder mehrere Bräute ohne Brautpreis überlassen. Und drittens gilt der Spruch »Wie du mir, so ich dir« – zwischen den Clanältesten wird eine Übereinkunft geschlossen, den Mörder zu töten, und damit endet jede Möglichkeit der Blutrache.
    Als Anab schließlich in Amerika ankam, war sie zwanzig Jahre alt und hatte schon ein Kind. Bald lernte sie einen Somali namens Shu'ayb kennen und heiratete ihn nach Scharia-Recht. (Offenbar machten sie sich nie die Mühe, die Ehe auch nach amerikanischem Recht zu schließen, und deshalb war diese Hochzeit rechtlich gar nicht gültig.) Und nun erfuhr ich, dass Anab nur zwei Jahre nach ihrer Einreise in die Vereinigten Staaten des versuchten Mordes angeklagt war, weil sie offenbar versucht hatte, Shu'ayb zu töten.
    Der Clan sammelte genug Geld, um die Kaution für sie zu stellen; Anabs Ehemann hatte den Angriff überlebt; ihr Prozess stand noch aus. Und ihre Tochter war in der Obhut der Fürsorge.
    Mir gingen diese Geschichten stundenlang im Kopf herum. Hassan arbeitete noch immer für die Blutlinie; pflichtschuldig kam er den ständigen Forderungen nach, der Familie Geld zu schicken und sie vor dem ewigen Hunger, Krankheiten und der allgemeinen Unsicherheit eines Lebens jenseits der Grenzen des Westens zu bewahren. In seinen Augen war das Barmherzigkeit und Güte: Es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Aus der Stammesperspektive verhielt er sich richtig, aber wozu hat es geführt?
    Wenn sich jemand um das Aufenthaltsrecht in den Vereinigten Staaten bemüht, muss er ein sauberes Führungszeugnis aus jedem Land vorweisen, in dem er gelebt hat. Den amerikanischen Einwanderungsbehörden war jedoch offenbar verborgen geblieben, dass man in Kenia und Tansania bei der Polizei ein sauberes Führungszeugnis kaufen kann. In Ländern wie Somalia gibt es noch nicht einmal jemanden, bei dem man es kaufen könnte. Vielleicht haben die amerikanischen Behörden auch noch nicht gemerkt, dass Angehörige von ethnischen Gemeinschaften, die fest zusammenhalten und die Regeln ihres Clans und ihrer Religion befolgen, in Amerika kaum Erfolg haben, weil sie Blutsbande und die Scharia über das weltliche Gesetz stellen, das in ihren Augen ein Fremdkörper ist.
    Ein paar Tage später erzählte mir Magool in einem langen nächtlichen Gespräch von einer weiteren Verwandten, Hiran, die in einer psychiatrischen Einrichtung lebte. Sie war verrückt geworden. Magool zufolge hatte Hiran 2003 erfahren, dass sie HIV-positiv war. Dann lernte sie einen jungen Iren kennen, der gut zu ihr war – der sie, wie Magool sagte, wirklich liebte. Dennoch verschwieg Hiran ihm, dass sie infiziert war, und sie ergriff auch keine Vorsichtsmaßnahmen. Irgendwann allerdings konnte sie ihre Diagnose nicht mehr verbergen, denn die Krankheit war voll ausgebrochen.
    All diese furchtbaren Geschichten, die Magool erzählte, versetzten mich in meine Zeit als Dolmetscherin in Holland zurück und erinnerten mich an die zahllosen Mädchen, für die ich übersetzt hatte. Sie waren in Schwierigkeiten geraten, weil sie keine Ahnung hatten, wie das mit dem Sex und den Liebesgeschichten im Westen funktionierte. Ein völlig verzweifeltes Mädchen zum Beispiel wollte einen positiven Schwangerschaftstest einfach nicht wahrhaben und behauptete allen gegenteiligen Beweisen zum Trotz, sie sei noch Jungfrau.

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