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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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die Fäuste und spannte die Kiefer an. Das letzte Mal geschlagen hatte er mich 1986, bevor er nach Somalia ging. Ich hatte Angst, jetzt würde er es wieder tun. Doch er tat es nicht, er verschwand einfach.
    Die Gelegenheit war nicht gerade günstig für eine Auseinandersetzung. Ich durfte keinen Ärger machen. Mahad und meine Mutter konnten mir meinen Pass wegnehmen, wenn sie wollten. Sie konnten mich an diesem furchtbaren Ort festhalten, um mir eine Lektion zu erteilen, und ohne meinen Pass hätte ich vielleicht nie zu meinem freien Leben in Holland zurückkehren können.

    Nach ein paar Wochen in Nairobi flog ich wieder nach Holland, zu meiner Dolmetschertätigkeit für somalische Flüchtlinge und Einwanderer, die mit den niederländischen Sozialbehörden zu tun hatten. Ich sah viele somalische Mütter, die von Männern wie meinem Bruder in Stich gelassen worden waren, mit Babys, die wie Mahads Sohn aussahen. Sie wurden von Schwiegermüttern wie meiner Mutter gequält, und wie meine Familie lebten sie in der Vergangenheit – der mythischen Vergangenheit eines Nomadenlebens in der Somali-Wüste. Sie erzählten ihren kleinen Kindern von Somalias Helden und vom Kamelmelken und impften ihnen den Hass auf andere Clans ein. Sie setzten ihre Kinder emotional unter Druck, nicht »zu holländisch« zu werden, Somali zu sprechen statt Niederländisch und ihre Kultur nicht aufzugeben.
    Diese Kinder waren schlecht in der Schule. Beim Einstufungstest bekamen sie Rätsel zu lösen, sie wurden aufgefordert, »bitte« und »danke« zu sagen und sich bei Tisch ordentlich zu benehmen. In Holland sind das wichtige Indikatoren dafür, ob Kinder sich altersgemäß verhalten. Doch all die somalischen Kinder, für die ich übersetzte – die sicher zu Hause auf dem Boden saßen und mit den Händen aßen –, versagten in diesen Tests. Und deshalb gingen sie nicht auf normale Schulen, sondern auf »Sonderschulen« mit »Förderunterricht«. Die niederländische Regierung gab viel Geld dafür aus, dass sie nicht den Anschluss verloren.
    Es schien ein Muster solcher unüberwindlicher Diskrepanzen zwischen den Erwartungen der Eltern und der Realität des Kindes in vielen Immigrantenfamilien in Holland zu geben – nicht nur bei Somalis, sondern auch bei Familien aus Marokko, der Türkei, dem Irak, Afghanistan und dem ehemaligen Jugoslawien. Ich fand es verblüffend, dass Mitarbeiter so vieler unterschiedlicher Institutionen – Sozialarbeiter, Lehrer, die Polizei, der Kinderschutz, Behörden, die sich mit häuslicher Gewalt auseinandersetzten – davon ausgingen, es gebe da ein tief verwurzeltes kulturelles Rätsel, das sie nicht lösen könnten. An sich war diese Annahme nicht dumm, aber in einem nächsten Schritt wollten sie die rätselhaften kulturellen Normen schützen. Diesen Rat bekamen sie von Anthropologen, Arabisten, Islamwissenschaftlern, Kulturfachleuten und ethnischen Organisationen, die alle darauf bestanden, dass diese Verhaltensweisen etwas Besonderes und Einzigartiges seien, das man in diesen Familien bewahren müsse.
    Ich machte mir Sorgen um den Sohn meines Bruders. Wie sollte er einmal in der modernen Welt Erfolg haben, wenn er mit so viel Zwist und Groll in der Familie aufwuchs?
    Kurze Zeit später ließ sich Mahad tatsächlich von Suban scheiden. Mit all seinen Vorstellungen von edler Abkunft und Familienehre, mit all seinen hochfliegenden Illusionen von einer Zukunft als Prinz schaffte er es nicht einmal, in seinen persönlichen Beziehungen integer sein.
    Ich beschloss, meine Mutter zur Rückkehr nach Somalia zu überreden. Sie hatte immer gejammert, mein Vater habe ihr die Gemeinschaft ihrer Familie geraubt und sie gezwungen, unter Fremden zu leben. Sie wollte nach Hause, also erklärte ich mich bereit, ihr die Rückkehr zu bezahlen. Dort hatte sie ihren Bruder und seine Kinder, ihre Schwestern und deren Kinder. Sie würde zu den Lauten und Gerüchen der Dhulbahante-Länder ihrer Kindheit zurückkehren, die weit entfernt waren von den ständigen Unruhen in Mogadischu.
    Obwohl ich meine Mutter dazu ermutigt hatte, regten sich in mir allerdings auch leise Bedenken, was ihren Umzug betraf. Ma war an die Vorzüge der Großstadt gewöhnt. Nairobi ist nicht die beste Stadt der Welt, aber man ist vor den schlimmsten Unbilden des Wetters geschützt, und die meiste Zeit hat man Strom und fließendes Wasser. Es gibt Ärzte. Man kauft die Milch abgepackt und muss nicht selbst die Kühe melken. Man muss keine Tiere schlachten,

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