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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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somalischen Clans treiben über ein aufgewühltes Meer der Unsicherheit, auf dessen Wellen jähe Veränderungen heranrollen und alles verschlingen – und wir haben keine Hilfsmittel, keine Werkzeuge, keine Rettungsboote zu unserer Verfügung. Die Blutlinie ist ausgelaugt und kraftlos. Wer daran festhält, endet in der Gewalt. Das ist keine Strategie für Einheit und Fortschritt.
    Deinen Kindern und Enkeln fehlt jetzt das Fundament, die Führung. Nimm Ladan. Du warst immer voller Verachtung für sie, weil Du sie für unberechenbar hieltest – sie mochte die Musik und die Unterhaltung der Ungläubigen. Heute lebt sie in Großbritannien, und die Menschen dort, die einst Mitleid mit ihr hatten und ihr Nahrung, Unterkunft und Almosen gaben, haben mittlerweile nur noch Verachtung für sie übrig. Sie kann Deinen Maßstäben nicht gerecht werden, aber auch nicht denen der Ungläubigen. Sie fühlt sich als Teil des Clans, doch das bedeutet ihr nichts. Sie ist verloren.
    Die Rettung liegt in der Lebensweise der Ungläubigen, Großmutter. Sie haben Bücher gedruckt und gebunden, die voller Erinnerungen stecken. Durch Linsen sehen sie eine unsichtbare Welt von Lebewesen, die in uns und mit uns leben, und sie haben Mittel gefunden, um gegen sie vorzugehen und unseren Körper vor ihnen zu schützen. Großmama, Fieber und Krankheit werden uns nicht von Dschinns, einem zornigen Gott oder von den Vorvätern geschickt, die von den Toten auferstehen, um uns zu quälen, sondern sie rühren von unsichtbaren Lebewesen her, die man Parasiten, Bakterien und Viren nennt. Die Medizin der Ungläubigen funktioniert besser als unsere, weil sie auf Fakten, Forschung und echtem Wissen gründet.
    Je schneller wir die Haltung der Ungläubigen zu Arbeit, Geld, Fortpflanzung und Freizeit übernehmen, desto leichter und besser wird unser Leben. Ich weiß, was Du von Bequemlichkeit hältst: Sie höhlt die Disziplin aus und schwächt die Moral. Sogar die Waschmaschine hast Du leidenschaftlich verdammt. Wenn Maschinen unsere Kleider und unser Geschirr waschen, so schäumtest du, hätten junge Mädchen und Frauen schon bald zu viel Zeit übrig. Wir würden uns zu allem möglichen Unfug hinreißen lassen und liefen Gefahr, als Huren zu enden.
    Mit der Waschmaschine hattest Du recht und unrecht zugleich. Die beste Medizin gegen Dekadenz ist es, ein Ziel vor Augen zu haben. Du würdest auch das Gebet anführen, aber ich bezweifle, dass das überhaupt zu etwas gut ist. Seit ich in die Länder der Ungläubigen kam, in denen Maschinen unsere Kleider und das Geschirr waschen, in denen wir am Computer Lebensmittel bestellen und damit viele Stunden am Tag einsparen, bin ich nicht untätig gewesen. Ich habe mich nützlich machen können und hatte Freude daran. Und Freude ist etwas Gutes.
    Großmutter, ich glaube nicht mehr an die alten Sitten. Die Welt hat sich im Lauf unserer Lebenszeit verändert, und mittlerweile haben die alten Sitten für mich keinen Nutzen mehr. Ich liebe Dich, und ich schätze zwar nicht alle, aber doch einige meiner Erinnerungen an Somalia. Doch der Blutlinie oder Allah werde ich nicht mehr dienen. Und weil die alten Sitten so viele unserer Leute in ihrer Lebensführung behindern, werde ich sogar versuchen, die anderen Nomaden von der Lebensweise der Ungläubigen zu überzeugen.

Teil zwei
EIN NEUES NOMADENLEBEN

Kapitel acht
AUS HOLLAND VERTRIEBEN
    Nach dem Tod meines Vaters stürmten ungebeten Erinnerungen auf mich ein. Manche waren schmerzlich, andere süß, aber seltsamerweise stammten die meisten aus Holland, dem Land, das ich erst kurz zuvor verlassen hatte.
    Holland war der sicherste Ort, an dem ich jemals gelebt hatte, und der glücklichste. Mit besonderer Wehmut denke ich an den Sommer 2001 zurück. Ich hatte soeben das Studium an der Universität Leiden mit dem Master-Examen abgeschlossen. Mit meiner Dolmetschertätigkeit für die holländischen Behörden hatte ich genügend Geld verdient, um mir mit meiner besten Freundin ein eigenes Haus zu kaufen. Ich hatte die Sprache der Gesellschaft gelernt, in die ich eingewandert war, und ich hatte eine verantwortungsvolle Stelle in der Denkfabrik einer wichtigen holländischen Partei. Ich hatte Freunde, mit denen ich die Freuden und Prüfungen des Lebens teilen konnte.
    Wenn ich in jenen Tagen darüber nachdachte, was ich erreicht hatte und wohin mein Leben mich noch führen würde, empfand ich ein tiefes Gefühl der Bestätigung. Gewiss, ich missachtete viele Gesetze Allahs, und ich

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