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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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dass jemand einen übervorteilen will. Auf die Art kann man mit niemandem richtig zusammenarbeiten, und aus Furcht vor Schande kann man nicht riskieren, in der Öffentlichkeit einen Fehler zu begehen.
    Die Ungläubigen fordern Ehrlichkeit und Vertrauen. Hier muss ich ständig anderen vertrauen: dass sie das Flugzeug, in dem ich sitze, anständig fliegen, dass sie meinem Kind etwas beibringen, dass sie sich um mich kümmern, wenn ich krank bin, dass die Lebensmittel, die sie mir verkaufen, essbar sind. Und dieses Vertrauen wird belohnt.
    Die Ungläubigen betrachten das Leben nicht als Test, als Aufnahmeprüfung für das Jenseits, sondern als eigenes Ziel und Quelle von Freude. Sie investieren ihr Geld, ihren Verstand und ihr Organisationstalent in ein bequemes und gesundes Leben hier auf Erden. Sauberkeit ist ihnen sehr wichtig, gute Ernährung, ausreichend Erholung. Sie sind ihren Frauen und Kindern treu. Sie kümmern sich um ihre Eltern, doch die Erinnerung an eine endlose Kette von Vorfahren ist ihnen fremd. Die Ernte ihrer Arbeit investieren sie in ihre eigenen Kinder, nicht die ihrer Brüder und Onkel. Menschen, die sie sich zu Freunden erwählen, bringen sie besonders viel Liebe, Großzügigkeit und Mitgefühl entgegen, und dabei folgen sie gemeinsamen Interessen und nicht dem Diktat der Blutsverwandtschaft.
    Weil die Ungläubigen anderen vertrauen und neue Ideen entwickeln, herrscht in ihren Ländern Wohlstand. Im Umfeld von Frieden, Wissen und Verlässlichkeit freut man sich über die Geburt eines Mädchens. Es besteht kein Anlass, die Nase zu rümpfen und zu schmollen, sondern man hat allen Grund zu feiern und sich zu freuen. Das kleine Mädchen sitzt in der Schule neben dem kleinen Jungen. Sie kann so viel spielen wie er, bekommt so viel zu essen wie er. Wenn sie krank ist, erhält sie dieselbe Pflege, und wenn sie größer ist, hat sie dieselben Chancen, sich selbst einen Partner zu suchen.
    Großmama, ich weiß, dass Du das zunächst schockierend und anstößig findest, aber wenn Du Dich beruhigt hast und mit kühlem Kopf darüber nachdenkst, wirst Du verstehen, dass es überhaupt nicht nötig ist, ein Kind dazu zu erziehen, dass es, wenn es erwachsen ist, einem anderen Menschen gehorcht und sein Sklave ist. Es ist gar nicht nötig, einem Mädchen die Genitalien zuzunähen, um sie für den Mann zu bewahren, der später das Recht über ihren Körper erwirbt.
    Die Ungläubigen preisen die Sparsamkeit genau wie du. Doch man legt auch Wert darauf, seinen Wohlstand nach außen zu zeigen. Das geht so weit, dass sich die Gesellschaftsschichten nach ihrem Besitz unterscheiden, nicht nach ihren Ideen und ihrer Ideologie. Diese Abstufungen – der Mensch wird schließlich immer kämpfen – sind zweckmäßiger als falsche Versprechungen der Brüderlichkeit im Namen eines gemeinsamen Ururgroßvaters. Wenn man sich auf der Grundlage handfester gemeinsamer Interessen organisiert, so ist das echter und direkter als die vorgebliche Einheit zwischen Menschen, die sich aus der Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren ableitet.
    Erinnerst Du Dich an Farah Gouré, den Stammesangehörigen, der sich in Nairobi um uns kümmerte? Er arbeitete, verdiente, investierte und mehrte seinen Reichtum, musste ihn aber im Namen Deiner Moral teilen und an die Familie des Mannes abgeben, der sich nie die Mühe machte, sein Bett zu verlassen, der lieber nicht arbeitete, der Frau und Kinder verlassen hatte. Sie alle nahmen Farah Gouré aus bis aufs letzte Hemd. Das erlebt im Moment auch Dein Lieblingsenkel Hassan, der in Amerika lebt, dem Land, in dem Abeh die Universität besuchte, ehe er Ma kennenlernte.
    Abeh ist jetzt tot, und auch Du bist tot, aber ich beklage Deinen Tod nicht, ebenso wenig wie das Hinscheiden Deiner Welt.
    Du hast mir alte Gedichte vorgetragen und mich angehalten, sie auswendig zu lernen. Ich habe sie alle vergessen. Ich habe Dich und die nächste Generation im Stich gelassen. Ich habe sie nicht auswendig gelernt. Und ich habe sie auch nicht aufgeschrieben. Jetzt bist Du nicht mehr da, und die Gedichte über Not und Triumph, über Sehnsucht und Liebe, über Angst und Heldenmut, Stolz und Erniedrigung, Großzügigkeit und Kleinlichkeit sind allesamt mit Dir verschwunden. Die Parabeln über Ränke und alte Weisheiten wurden mit Dir begraben, als man Dich in ein Loch im Sand legte.
    Ich beklage diesen Verlust von Erinnerungen, doch in der neuen Welt haben die Gedichte nicht mehr die Kraft, uns zu stützen. Die

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