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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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entdeckt habe. Sie bezogen sich eindeutig auf die Veranstaltung, enthielten Details meines Vortrags und bekundeten unmissverständlich die Absicht, mich an dem Auftritt zu hindern. Ich saß in einem Restaurant in Los Angeles, als ich die Nachricht erhielt und man mir riet, den Vortrag abzusagen. Es brach aus mir heraus: »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Dies ist ein freies, demokratisches Land. Ich werde diesen Vortrag halten, und gerade weil ich eine Leibwache habe, bin ich dazu imstande. Genau aus diesem Grund habe ich nämlich Schutz!« Sobald ich mich beruhigt hatte, rief ich Chris DeMuth im AEI an und bat ihn um Rat. Ich wollte auf keinen Fall das Leben anderer aufs Spiel setzen. Ohne eine Sekunde zu zögern, sagte er: »Gehen Sie und tun Sie, was Sie tun müssen.«
    Der Vortrag fand statt wie geplant, dank der gemeinsamen Bemühungen mehrerer Sicherheitsorganisationen, nicht zuletzt der lokalen Polizei.

    Häufig werde ich gefragt, wie es ist, mit Leibwächtern zu leben. Die kurze Antwort lautet: Es ist eindeutig besser, als tot zu sein. Und es ist besser, als ein Kopftuch oder einen Schleier zu tragen, was in meinen Augen stellvertretend für die psychischen und physischen Einschränkungen steht, unter denen so viele muslimische Frauen leiden müssen.
    Allerdings bin ich mir der Ironie meiner Lage durchaus bewusst: Ich gelte als die große Ikone der Freiheit der Frau, muss aber wegen der Morddrohungen auf eine Weise leben, die in gewissem Sinn unfrei ist. Es ist durchaus nicht angenehm, ständig von Mitgliedern eines Teams aus auffallend kräftigen, bewaffneten Männern verfolgt zu werden. Das ist ungefähr so wie das Tragen eines Raumanzugs, einer Schutzkleidung, die den direkten Kontakt mit den Elementen verhindert. Es hemmt einen und lässt jede Bewegung sehr bewusst und steif erscheinen. Ich mag es nicht, Tag und Nacht beobachtet zu werden.
    Aber die Leibwächter garantieren meine Sicherheit. Sie nehmen mir einen Teil meiner Angst. Wenn man die ganze Zeit mit Morddrohungen lebt, bekommt man Angst und hat schreckliche Albträume. Wenn ein Auto ein wenig zu lange vor meinem Haus parkt, frage ich mich: Werde ich beobachtet? Wenn der Mann am Zeitungskiosk mich anstarrt: Weiß er, wer ich bin? Wenn ein Postbote an der Tür klingelt: Ist er wirklich der, für den er sich ausgibt? Soll ich öffnen?
    Ich versuche, wachsam zu bleiben. Ich halte nie einen festen Tagesablauf ein. Aber ich habe beschlossen, das Schreiben nicht einzustellen und weiterhin auf das Leid muslimischer Frauen aufmerksam zu machen und darauf, welche Gefahren für die Gedankenfreiheit, die Redefreiheit und für demokratische Regierungen von Extremisten ausgehen. Selbst wenn ich aufhören würde, glaube ich nicht, dass das etwas an meiner Lage ändern würde: einmal ein Feind, immer ein Feind. Irgendjemand wird sich immer aufhetzen lassen und sich mit Freuden mit mir zusammen ins Jenseits befördern.
    In gewisser Weise spornen mich diese Drohungen eher an. Sie haben meiner Stimme eine größere Legitimität verschafft.
    An jenem Nachmittag im Central Park schlenderte ich ein wenig in der Sonne und unterhielt mich mit dem holländischen Paar. Sie erzählten mir, wie sehr sie die Art und Weise, wie man in Holland mit mir umgesprungen sei, empört habe und wie gerne sie mir helfen würden. Es war eine nette Begegnung – ganz unerwartet. So geht es mir häufig, wenn mir Holländer über den Weg laufen; manche verhalten sich feindselig, aber die meisten sind sehr liebenswürdig, ja herzlich. Die Begegnung weckte in mir das Heimweh nach Holland. Als ich holländische Laute mitten in Manhattan hörte, spürte ich jenes vertraute, spontane und sogar fast bedingungslose Zusammengehörigkeitsgefühl, das Menschen empfinden, wenn sie aus derselben Gegend stammen. Ein Nomade möchte immer das flüchtige Gefühl festhalten, eine Familie zu haben.

    An Weihnachten 2009, drei Jahre nach meiner Emigration nach Amerika, führte ich mehr denn je das Leben einer Nomadin. Ich verbrachte nicht viel Zeit in Washington. Meine Stelle war eine Mischung aus akademischer Forschung und politischem Engagement für meine Ziele. In der Forschung stellte ich schon bald fest, dass sich die Debatten über Islam, Multikulturalismus und Frauen schon Ende der Achtziger- und im Lauf der Neunzigerjahre erschöpft hatten, lange vor dem 11. September 2001. Soweit ich das beurteilen konnte, gab es nichts Neues, das ich dem Forschungsstand hinzufügen konnte. Meine akademische

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