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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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trug noch bei, dass man sich in Washington so wunderbar leicht zurechtfindet. Die Stadt ist in geraden Linien angelegt, mit Straßen, deren Namen den Buchstaben des Alphabets und den Zahlen bis sechsundzwanzig folgen: Mir kam es so vor, als könnte ich mich hier nie verirren.

    Im Februar 2007 erschien meine Autobiografie Infidel (deutsch: Mein Leben, meine Freiheit ) in den Vereinigten Staaten, und ich ging auf Lesereise durch das ganze Land. Es war eine sehr lehrreiche Erfahrung für mich. Zu meinem Erstaunen konnte allein der Flug von einer Stadt zu einer anderen fünf bis sechs Stunden dauern; dieses riesige Land hat vier Zeitzonen (mit Hawaii fünf) und mehrere verschiedene Klimazonen. Natürlich hatte ich diese Fakten schon in der Schule gelernt, aber erst jetzt wurde mir die schier überwältigende Größe der Vereinigten Staaten richtig bewusst.
    In den Niederlanden ist man nach zwei Stunden Autofahrt bereits an der Landesgrenze. Das Land dort ist flach, und alle Felder sind fein säuberlich gezogene Rechtecke; jeder Quadratmeter in den Niederlanden ist vom Menschen berührt und gestaltet worden. Hingegen würden ganze europäische Länder ohne Weiteres in einen großen US-Staat wie Texas oder Kalifornien passen. Und die vielgestaltige Landschaft Amerikas mit Tälern, Bergen, Bächen, Schluchten und Canyons ist fast ebenso ungezähmt und herausfordernd wie die Landschaft in Somalia. Als ich aus den kleinen Fenstern im Flugzeug blickte, verstand ich allmählich, warum die Menschen in ländlichen Regionen glauben, ein Recht auf Waffen zu haben.
    Der Anblick der amerikanischen Landschaft erfüllt mich jedes Mal mit Erstaunen. Auf der Fahrt von Santa Fe nach Albuquerque begegnete ich mehr als eine Stunde lang keiner Menschenseele. Rechts und links erstreckte sich eine Mondlandschaft aus seltsamen Felsformationen und Kratern, übersät mit Kakteen, und obwohl es im Wagen sehr warm war, erhoben sich in der Ferne schneebedeckte Gipfel.
    Die Niederlande haben überhaupt nichts Wildes an sich. Die geschützten Arten dort sind die Bisamratte und einige seltsame Insekten, alle größeren Spezies wurden schon vor Jahrhunderten ausgerottet. In den Vereinigten Staaten habe ich beim Besteigen eines Berges so hohe Bäume gesehen, dass sie geradezu prähistorisch wirkten, und mitten unter ihnen Kojoten und Wapitihirsche.

    Ich bewunderte die weite Landschaft Amerikas und mochte meine Arbeit in Washington, aber wirklich zu Hause fühlte ich mich in New York City, wo ich häufig Freunde besuchte. An einem wunderschönen Wochenende im Juni 2007 spazierte ich durch den Central Park. Der Sommer stand vor der Tür – ich merkte das an den Gewitterstürmen und sintflutartigen Regengüssen –, aber dieser Morgen war herrlich: klar, sonnig und kaum ein Windhauch. Es war ein Tag, an dem man am liebsten im Bikini durch den Park gelaufen wäre.
    Ich ging an der Bronzestatue auf dem Brunnen »Angels of the Waters« und den vier Engeln vorbei und weiter bis zum See. Ein Paar auf Rollerskates sauste an mir vorüber; eine Frau mit zwei Kindern in einem Zwillingsbuggy joggte heran. Rings um mich her unterhielten sich Europäer in vertrauten Sprachen: Italienisch, Französisch, Schwedisch. Der Dollar war schwach, und das Wetter war einfach großartig.
    Jemand tippte mir auf die Schulter, und erschreckt drehte ich mich um. Ein junges holländisches Paar in Jeans und Lederjacken lächelte mich breit an, die Kamera in der Hand. Es erinnerte mich an meine letzte, verlorene Heimat. Es erinnerte mich darüber hinaus an meine anhaltende Unsicherheit. Meine Leibwächter kamen näher. Ich winkte ab.
    »Mevrouw Hirsi Ali«, sprach mich der Mann auf Holländisch an. »Dürfen wir ein Foto mit Ihnen machen?«
    »Natürlich«, erwiderte ich und lächelte. Ein Leibwächter erbot sich, das Bild mit ihrer Kamera aufzunehmen. Während wir dastanden, fragte mich die Frau: »Hört das denn nie auf?« Sie meinte die Männer, die Wächter. Wann wird das aufhören?
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wann es aufhört.«
    »Erhalten Sie immer noch Morddrohungen?«
    »Schwer zu sagen. Ich erhalte Drohungen per E-Mail. Aber Menschen, die einem wirklich schaden wollen, machen sich nicht die Mühe, eine Warnung zu schicken.«
    Während meiner Lesereise für die Autobiografie sollte ich einen Vortrag in der öffentlichen Bibliothek von Philadelphia halten. Eine Woche vorher teilte mein Personenschutz mir mit, dass man auf einer muslimischen Website Drohungen

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