Ich bin eine Nomadin
vergangenen Jahr bin ich nicht nur in Las Vegas gewesen. Ich habe eine Kreuzfahrt nach Alaska gemacht, wo ich hohe Berge und Gletscher sah, Schwarzbären und Braunbären und Wale, die mehrere Meter hohe Fontänen in die Luft bliesen und dann tauchten, um ihre mächtige Schwanzflosse zu präsentieren. An Thanksgiving schlug mir ein anderer Freund – als würde er mir eine Tasse Tee anbieten – eine Fahrt mit einem Geländewagen auf einer Ranch in Texas vor. Am Ende bekam ich auch noch eine Reitstunde auf dem Pferd eines echten Cowboys. Und ich habe an Konferenzen teilgenommen, auf denen nach dem Essen zur Verdauung eine Partie Golf oder Tennis gespielt oder eine Wildwasserfloßfahrt veranstaltet wurde.
Ich hatte Glück, dass ich auf diese Art in das Land gekommen bin. Ich kann mich glücklich schätzen, so viele Freunde zu haben. Aber das heißt nicht, dass ich mich darüber täusche, wie es ist, als illegaler Einwanderer nach Amerika zu gelangen, indem man sich über die mexikanische Grenze schleicht, oder in den Armenvierteln von Chicago, Los Angeles oder New York das Licht der Welt zu erblicken. Bei meinen Abstechern in die Bronx habe ich gesehen, dass es in der Tat Gegenden in Amerika gibt, wo die Menschen kaum genug zum Essen haben, wo Mädchen mit dreizehn schwanger werden, wo sich Jungs im Teenageralter problemlos Waffen beschaffen und aufeinander schießen, wo Schuleingänge kugelsicher sein und die Schüler Metalldetektoren passieren müssen. In manchen Gettos wird die Lebenserwartung eines schwarzen Jungen auf achtzehn geschätzt.
Es gibt gravierende soziale und politische Probleme, keine Frage. In manchen Fällen sind sie eindeutig noch ernster als die entsprechenden Probleme in »sozialen Brennpunkten« in Europa. Aber diese Probleme betreffen nicht die große Mehrheit der Menschen in Amerika, anders als in Afrika, wo eben die große Mehrheit davon betroffen ist.
Worin unterscheidet sich Amerika von Europa und Afrika? Ganz bestimmt nicht nur durch die Anzahl der Tötungsdelikte in armen schwarzen Wohnvierteln. Um diese Frage zu beantworten, möchte ich meine Eindrücke auf einer Hochzeit schildern. Eine Woche vor meinem vierzigsten Geburtstag nahm ich an der Hochzeitsfeier meiner Freunde Margaret und John in der Stanford Memorial Church im kalifornischen Palo Alto teil.
Mit ihren einunddreißig Jahren sah Margaret einfach großartig aus, und John wirkte wie ein Mann, der im Begriff war, eine ernste Aufgabe zu übernehmen. Ich war noch nie auf einer amerikanischen Hochzeit gewesen, und mir kam es vor, als hätte im Film die Braut immer blondes und der Bräutigam dunkles Haar. Aber abgesehen davon, dass Margaret blond ist und John dunkelhaarig, hatte ihre Hochzeit überhaupt nichts mit den Filmen zu tun, die ich gesehen hatte. Hochzeiten in Filmen sind für gewöhnlich Komödien: Der Priester verwechselt die Eheversprechen (Vier Hochzeiten und ein Todesfall), die Braut läuft davon (Die Braut, die sich nicht traut), die Eltern geraten in die Klemme (Meine Braut, ihr Vater und ich). Das hier war aber keine Komödie. Die Zeremonie klappte einwandfrei. Das Essen war reichlich und köstlich, der Wein ausgezeichnet, die Kirche atemberaubend, die Braut im Brautkleid ihrer Großmutter hatte Tränen in den Augen, und auch der Bräutigam war sichtlich gerührt. Feierlich gaben sie sich das Eheversprechen, wobei ich mich insgeheim fragte, ob ein Mensch ein derartiges Versprechen wirklich einhalten kann: »Vor Gottes Angesicht nehme ich dich an als meine Frau/meinen Mann. Ich verspreche dir die Treue in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, bis der Tod uns scheidet. Ich will dich lieben, achten und ehren alle Tage meines Lebens.«
Die Bedeutungsschwere des Gottesdienstes verblüffte mich so, dass ich der jungen Frau neben mir zuflüsterte: »Ganz schön ernst für ein so junges Paar, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte sie. »Heiraten hat wenig mit dem Alter zu tun, sondern viel mit Familie, und hier in Amerika ist Familie eine ernste Angelegenheit.«
An jenem Tag lernte ich, dass die Familie wirklich die Keimzelle der amerikanischen Gesellschaft ist. In der Theorie ist in einer freien Gesellschaft natürlich das Individuum der Ausgangspunkt für eine demokratische Verfassung und die Gesetze. Die Verantwortung des Einzelnen wird überall gefordert. Aber schon bald erkennt man, dass der Einzelne, um ein glückliches und erfülltes Leben zu führen, in eine Familie eingebettet sein muss. Amerikaner
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