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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Sexualgesetze im Zuge seiner Ausbreitung in andere Länder, von Mali bis Indonesien. Unter der Scharia ist eine muslimische Frau im Grunde das Eigentum ihres Vaters und Großvaters, ihrer Brüder und Onkel. Diese Männer sind ihre Vormünder, verantwortlich für ihr Verhalten und für ihre Entscheidungen. Vor allem aber müssen sie dafür sorgen, dass sie sexuell »rein« bleibt.
    Der Islam nahm eine unentwirrbare Masse traditioneller Weisungen und Rituale auf, die durch die fundamentalistischen Strömungen heute noch weiter ausgedehnt werden. Die Fundamentalisten fühlen sich offenbar vom weiblichen Körper verfolgt und diskutieren regelrecht neurotisch darüber, welche Teile dieses Körpers bedeckt sein sollten, bis sie ihn schließlich vom Kopf bis zu den Zehen zu einem einzigen riesigen Geschlechtsteil erklären.
    Wann und warum entwickelten die arabischen – und in der Folge die muslimischen – Gesellschaften einen solchen Kontrollzwang hinsichtlich der weiblichen Sexualität? Vielleicht lag früher einmal eine gewisse Logik darin. Damit ein Stamm stark blieb, mussten die Krieger untereinander loyal sein. Eine unabhängige weibliche Sexualität hätte die Loyalität womöglich unterminiert. Kämpfe um Frauen hätten eine männlich geprägte Gesellschaft vielleicht noch leichter gespalten als Kämpfe um Kamele, und so beschloss man damals in der Wüste, die Frauen zu kontrollieren – sie auf ihre Wohnbereiche zu beschränken, sie aus der Öffentlichkeit zu verbannen oder sie zu verschleiern, sodass sie unsichtbar wurden, ihre Genitalien zu beschneiden, um ihr sexuelles Verlangen einzuschränken, und sie zuzunähen, damit der Sex unerträglich schmerzhaft wurde.
    Großmutter beschäftigte sich nicht mit solchen unnützen Fragen. Sie wusste nur, dass wir den Regeln zu folgen hatten, als ob unser Leben davon abhinge – wie vielleicht früher tatsächlich ihr Leben davon abgehangen hatte. Sie vertrat diese Regeln in unserem Haushalt und setzte sie durch. Wie sie immer wieder sagte: »Ich versuche nur, dir beizubringen, wie man überlebt.«
    Noch heute ist die Jungfräulichkeit der Dreh- und Angelpunkt in der Erziehung eines muslimischen Mädchens. Ich lernte, dass es wichtiger ist, Jungfrau zu bleiben, als am Leben zu bleiben – besser sterben, als sich vergewaltigen lassen. Sex vor der Ehe ist ein unvorstellbares Verbrechen. Jedes muslimische Mädchen weiß, dass ihr Wert sich fast ausschließlich nach ihrem Jungfernhäutchen bemisst, ihrem wichtigsten Körperteil überhaupt, weitaus wichtiger als ihr Gehirn oder ihre Gliedmaßen.
    Sobald das Jungfernhäutchen gerissen ist, ist das Mädchen gebraucht, gebrochen, beschmutzt, und dieser Schmutz ist ansteckend. So sah meine Cousine Hiran sich selbst, als sie sich ihrem sexuellen Verlangen hingab und man das HI-Virus bei ihr diagnostizierte. So sah sich Ladan und verlor deshalb jedes Selbstwertgefühl. Sie sah sich durch die Augen ihrer nächsten Verwandten, Menschen wie meine Großmutter, und diese Geister aus der Vorzeit gaben ihr die Schuld und schrieen: »Hure!«
    Muslimische Kulturen haben verschiedene Methoden entwickelt, um die Jungfräulichkeit der Frauen zu überwachen und zu garantieren. Viele sperren ihre Frauen zu Hause ein. Sie nehmen dafür in Kauf, dass sie nicht von deren Arbeit außerhalb des Hauses profitieren können, und kontrollieren ganz besessen jeden ihrer Schritte. Dieses ständige Geflüster und Getuschel, die permanente Überwachung jeder ungehörigen Geste und jedes erhobenen Blicks ist auch eine Art der Gefangenschaft, die jede Bewegung einschnürt. Wenn die Frau das Haus verlässt, hüllt sie sich in einen Schleier, und der bedeutet ebenfalls Gefangenschaft: Jeder Atemzug, den eine Frau außerhalb der eigenen vier Wände tut, wird durch einen dicken, schweren Stoff fast erstickt; jeder Schritt wird gehemmt, jeder Zentimeter Haut vor der Sonne versteckt.
    Selbst draußen ist eine verschleierte Frau immer drinnen. Sie atmet stickige Luft; der schwere Stoff drückt gegen Augen, Nase und Mund. Alles tut sie verstohlen im Verborgenen. So halb blind und behindert, ohne jeden Kontakt zur Außenwelt, verlieren muslimische Frauen oft das Zutrauen in ihre Fähigkeit, selbst etwas zu tun. Jede unabhängige Bewegung fühlt sich seltsam an. Jede Frau, die über Jahre hinweg einen solchen Schleier getragen und ihn dann abgelegt hat, wird bezeugen, dass das Gehen zunächst fast schwierig ist – es ist, als würden die Beine unverhüllt nicht mehr so

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