Ich bin eine Nomadin
wohnte. Ubah war als Waise aus Somalia nach Nairobi gebracht worden, wo sie bei ihrer Tante lebte, die jedes Jahr aufs Neue schwanger war und Ubah wie eine Sklavin behandelte. Ubah musste auf einer dünnen Matte in der Küche schlafen, die schwarz vom Ruß und mit Essensflecken übersät war. Sie hatte offenbar nur ein Kleid, und das war voller Löcher. Den ganzen Tag putzte Ubah hinter den Kindern her, erledigte die schweren Lebensmitteleinkäufe, wusch Berge von Stoffwindeln – und wurde ununterbrochen angeschrieen.
Meine Mutter und Großmutter wurden nicht müde, mich an Ubahs Situation zu erinnern. »Sieh mal! Du lebst doch in einem gewaltigen Luxus verglichen mit Ubah«, sagten sie dann immer. »Ubah ist eine Sklavin, weil sie keine Mutter hat. Du bist wohlbehütet.« Und vor allem: Ich ging zur Schule und Ubah nicht.
Wann immer ich Menschen im Westen heute sagen höre, »Bildung ist die Lösung«, muss ich nur an jene Zeit zurückdenken, um die absolute Wahrheit dieser Aussage zu erkennen. Die Frauen in unserer Nachbarschaft hockten zusammen und beklagten sich, dass die Schule die jungen Mädchen wie mich verdarb und uns rebellisch machte. Sie sahen, dass Ubah und andere, die nicht zur Schule gingen, einfach gehorchten. Diese Mädchen hatten sich an die unterwürfige Haltung so gewöhnt, dass sie ihren Status nie infrage stellten. Gelegentlich ertappte ich Ubah dabei, wie sie versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken, denn schon Weinen galt als eine Form der Auflehnung. Und auch die somalischen Männer beschwerten sich: »Weil sie zur Schule gehen, geben sie uns jetzt Widerworte. Weil sie zur Schule gehen, erheben sie jetzt all diese Forderungen – und treten die Tradition und die Religion mit Füßen.«
Manche Mädchen wurden direkt nach der ersten Regelblutung aus der Schule genommen und zu Hause behalten, damit sie gehorsam blieben, oder sie wurden zu einer frühen Heirat gezwungen. Doch denjenigen von uns, die weiter die Schule besuchen konnten, gab die Bildung tatsächlich eine Stimme und eine Vorstellung von der Welt draußen. Meine Schwester Haweya und ich sprachen Englisch oder Swahili miteinander; beide Sprachen waren meiner Mutter und Großmutter fremd. Es gab uns eine gewisse Macht über sie, die sie über ihre Eltern nicht gehabt hatten.
Noch etwas anderes lernten wir in unseren kenianischen Schulen, von dem Mädchen wie Ubah nichts mitbekamen: Wir hatten Sexualkundeunterricht. Der war zwar bei Weitem nicht so offen und anschaulich wie der, den ich später in Holland kennenlernte, aber es reichte, um meine Ma in Angst und Schrecken zu versetzen.
Sexualkunde war Bestandteil unseres Biologiebuchs. Eigentlich versuchte meine Lehrerin, Mrs. Karim, das Kapitel zu überspringen. Doch wie meine Freundinnen überblätterte ich die Seiten über Amöben, Protozoen und die Reproduktion einzelliger Organismen schnell und stürzte mich auf die menschliche Fortpflanzung mit Diagrammen von Eileitern und Gebärmutter, von Hoden und Penis. Das alles war sehr wissenschaftlich erklärt, und wie Sex wirklich funktionierte, blieb größtenteils im Dunkeln, aber immerhin begriffen wir dank dieser Informationen zumindest ansatzweise, warum man uns ständig einschärfte, Männer zu meiden, und wir entwickelten ein Grundverständnis von der Funktionsweise unseres Körpers. Auch dies gab uns eine gewisse Macht über unsere Eltern. Meine Mutter weigerte sich, über diese Dinge zu reden, und schlug mich, als ich meine erste Periode bekam. Sie prügelte aus purer Hilflosigkeit auf mich ein, denn ihr selbst fehlte dieses Verständnis der Körperfunktionen, und sie hatte Angst, dass mein sehr elementares Wissen über die schlichten Fakten mich schon auf mysteriöse Weise verdorben haben könnte.
Wie meine Großmutter waren auch die anderen muslimischen Frauen in meinem Leben – Mütter meiner Klassenkameradinnen und anderer somalischer Mädchen in der Nachbarschaft – der Ansicht, dass die beste Strategie darin bestand, die Mädchen zu Hause zu behalten, sie zu bedecken, zu beschneiden und, wenn die Mädchen allzu rebellisch waren, ihre Brüder und Väter oder sogar Cousins mit der Bestrafung zu beauftragen. Die Strafen reichten von einer Tracht Prügel bis zur Zwangsehe. Wir hörten auch Geschichten über Mädchen, die von ihren Familien umgebracht worden waren.
Vor langer Zeit, in der Wüste, schlossen sich Nomaden in Clangesellschaften durch Familienbande zusammen, durch alte Abstammungslinien, die ihnen über
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