Ich bin eine Nomadin
große Entfernungen Schutz und Hilfe gaben. Außerhalb des Clans herrschten Gefahr und Chaos, war jeder auf sich selbst gestellt. In einer Clangesellschaft beruht jede Art von menschlicher Beziehung auf der eigenen Ehre innerhalb des Clans, und außerhalb des Clans gibt es nichts – dort ist man von jeder Form bedeutsamer Existenz ausgeschlossen. Das war die wichtigste Lektion, die Großmutter ihren Enkeln zu vermitteln versuchte.
Die Ehre eines Mannes innerhalb einer Clangesellschaft – in solchen Gesellschaften geht es zunächst und vor allem um Männer – bemisst sich an seiner Autorität. Männer müssen Krieger sein. Schwäche bedeutet für einen Mann Schande. Frauen bringen Männer auf die Welt, und die Ehre der Frauen beruht auf ihrer Reinheit, ihrer Demut, ihrem Gehorsam. Ihre Schande ist sexuelle Unreinheit, und das ist die schlimmste Schande überhaupt, denn der sexuelle Ungehorsam einer Frau entehrt sie selbst, ihre Schwestern und ihre Mutter ebenso wie die männlichen Verwandten, deren Pflicht es ist, sie zu überwachen.
Ohne Ehre hat ein muslimischer Mann in der Gesellschaft kein Ansehen. Und egal, wie viel Ehre er sich durch kluge Entscheidungen und gute Taten erwirbt – sie ist dahin, wenn seine Tochter oder seine Schwester sexuell beschmutzt wird. Das kann passieren, wenn sie vor der Ehe ihre Jungfräulichkeit verliert oder wenn sie außerehelichen Verkehr hat – wozu auch eine Vergewaltigung zählt. Es genügt schon das Gerücht, sie könnte mit jemandem geschlafen haben, um ihr das Etikett »entehrt« anzuhängen, das führt zum Ehrverlust der ganzen Familie. Ein Vater, der seine Töchter nicht unter Kontrolle hat, ein Bruder, der mit seinen Schwestern nicht fertig wird, ist entehrt. Er ist bankrott – sozial und sogar wirtschaftlich. Seine Familie ist ruiniert. Das Mädchen wird keinen Brautpreis einbringen, ebenso wenig wie ihre Schwestern und Cousinen, denn allein der Verdacht unabhängiger Gefühle und Taten bei den Frauen in der Familie befleckt auch sie. Ein solcher Mann erleidet einen sozialen Tod, er wird von der gegenseitigen Hilfe und dem Respekt des Clans ausgeschlossen – das schlimmste Schicksal, das einen Menschen, egal ob Kind oder Erwachsener, Mann oder Frau, treffen kann.
Die Kontrolle der weiblichen Sexualität und die Beschränkung des männlichen Zugangs zum Sex mit Frauen bilden den Mittelpunkt des Ehrenkodex. Muslimische Frauen sind Besitz, und jedes muslimische Mädchen muss bei der Hochzeit Jungfrau sein. Einmal verheiratet (mit oder ohne ihre Einwilligung), muss sie ihrem Mann treu sein, den sie in traditionellen Gesellschaften nie beim Vornamen nennen wird – er heißt nur rajel, mein Herr. Im Fall einer Scheidung oder beim Tod des Mannes übernehmen neue Vormünder die Kontrolle über ihre sexuellen Aktivitäten: ihre Söhne, falls sie schon erwachsen sind, oder der Vater ihres Ehemannes und dessen männliche Blutlinie. Diese Männer können, wenn sie es wollen, einen neuen Ehemann für sie aussuchen. Nur ganz wenige muslimische Frauen dürfen ihren Sexualpartner frei wählen.
Eine so wirkmächtige Eigenschaft wie die Jungfräulichkeit eines muslimischen Mädchens hat auch großen Wert als Handelsware, und damit ist die Jungfräulichkeit vor allem Männersache. Töchter dienen als Köder für Geschäftsverbindungen oder sie werden für den Meistbietenden aufbewahrt. Macht, Reichtum und die Festigung von Beziehungen innerhalb des Clans können von Ehebanden abhängen, und deshalb ist es wichtig, gut erzogene Töchter – die ebenso bescheiden wie fügsam sind – zu haben. Ihren Gehorsam mit Gewalt durchzusetzen oder sie durch Prügel vom Herumtreiben abzuhalten ist in einem Wertesystem, in dem Frauen kaum mehr freien Willen haben als Vieh, absolut legitim. In der Hochzeitsnacht muss das Jungfernhäutchen reißen und das Laken blutig sein, sonst gilt die Braut als Flittchen.
Diese uralte Sexualmoral entstammt der arabischen Stammeskultur und ist viel älter als die Offenbarungen des Engels Gabriel gegenüber dem Propheten Mohammed, die von seinen Gefährten auf Papier gebannt wurden, das längst zu Staub verfallen ist. Schon damals waren in jener Gegend – den Wüstenstädten Mekka und Medina, deren Stämme viele verschiedene Götzen und Götter anbeteten – Ehre und Schande die Angelpunkte, um die sich das Zusammenleben von Männern und Frauen drehte. Der Islam goss diese Einstellungen in ein Regelwerk, das bis heute Bestand hat, und brachte seine
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