Ich bin eine Nomadin
hatte gelogen, als ich um Asyl bat, und das schien funktioniert zu haben, denn ich hatte den A-Status bekommen. Doch ich dachte, dies sei noch einmal ein Test. Damals war mir nicht klar, dass die verschiedenen niederländischen Behörden ihre Informationen untereinander nicht weitergeben.
»Wo leben Ihre Eltern jetzt?«, fuhr sie fort. »Ich sehe, dass Sie den A-Status haben. Ich weiß, dass in Somalia Krieg herrscht, das muss wirklich schlimm für Sie sein.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen, und ich stürzte mich in die Geschichte über den Bürgerkrieg, die ich jetzt schon seit Monaten immer wieder geübt hatte. Aber da unterbrach sie mich schon und meinte: »Lassen Sie uns mit dem Antrag weitermachen.«
»Antrag?«, fragte ich verwirrt. Ich dachte, ich hätte den A-Status schon.
»Ja«, antwortete sie, »dem Kreditantrag. Sie brauchen einen Kredit, um Ihre Wohnung einzurichten.«
»Oooh!«, rief ich. »Ich muss meine Wohnung einrichten .« Meine … Wohnung … einrichten! Drei gewaltige, ganz neue Vorstellungen stürzten auf mich ein.
»Wie viel brauchen Sie?«, fragte die freundliche Sozialarbeiterin.
»Gerade genug«, antwortete ich vorsichtig.
Sie erklärte, dass ich zwischen tausendzweihundert und fünftausend Gulden bekommen könnte. »Sie wissen nicht, wie viel so etwas kostet, oder?«
»Nein«, musste ich zugeben. »Ich weiß nicht, wie viel so etwas kostet.«
»Haben Sie Freunde?«, fragte sie. »Die könnten Ihnen die billigen Läden zeigen …«
Bei dem Wort billig überkam mich tiefe Scham. Ein Gefühl, dass ich tief gefallen und jetzt auf der tiefsten Stufe dieser Gesellschaft angekommen war.
»Ja, ja, ich habe Freunde«, versicherte ich. Ich konnte einfach nicht zugeben, dass ich keine hatte.
Sie füllte den Antrag weiter aus. »Wann, denken Sie, werden Sie das Geld zurückzahlen können?«
»Muss ich es zurückzahlen?«, fragte ich. »Ich dachte, Sie geben es mir einfach so.«
»Nein, einfach so bekommen Sie es nicht. Es ist ein Kredit. K-r-e-d-i-t. Ein Kredit.«
»Was ist das?«, wollte ich wissen. »Oh, Sie meinen, Schulden?« Die Vorstellung, Schulden bei einem Ungläubigen zu haben, beunruhigte mich. Das bedeutete sicher, dass ich Zinsen bezahlen musste, was unislamisch und verworfen war. Das Ganze war sicher ein Trick der Ungläubigen.
»Ja«, sagte sie. »Sie müssen Zinsen dafür zahlen.«
»Aber in meiner Religion ist das nicht erlaubt!«, protestierte ich.
»Es zwingt Sie ja auch niemand«, erklärte die Sozialarbeiterin. »Eigentlich sollten Sie wirklich keine Schulden machen, es ist nicht gut für Sie. Ihre Religion ist weise. Aber Sie haben keine Möbel und eine leere Wohnung, und bald wird es kalt werden. Wollen Sie darüber nachdenken und nächste Woche noch einmal kommen?«
Ich sagte Nein. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Die zusätzliche Sünde des Zinswuchers spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Ich hatte schon so viel Sünde auf mich geladen. Ich hatte Geld von den Ungläubigen genommen, in ihren Lagern geschlafen, meinen Eltern nicht gehorcht, meine Gebete vernachlässigt, mein Haar kurz geschnitten und Hosen getragen wie ein Mann. Ich war auf jeden Fall verdammt. Außerdem war es kalt, ich wollte eine schöne Wohnung, und diese Dame hier bot mir einen wirklich verlockenden Geldbetrag an: fünftausend Gulden (heute knapp zweitausenddreihundert Euro).
»Machen wir bitte mit dem Antrag weiter«, sagte ich.
»Gut«, meinte sie. »Der Rückzahlplan sieht so aus: Solange Sie keine Arbeit haben, bekommen Sie tausendzweihundert Gulden Arbeitslosenhilfe. Jeden Monat werden wir hundert Gulden davon abziehen, um die Schulden zu tilgen. Das machen wir fünf Jahre lang, bis der Kredit abbezahlt ist. Wenn Sie einen Job finden, werde ich oder eine Kollegin mit Ihnen beraten, und wir arbeiten dann einen neuen Zahlungsplan aus. Haben Sie das verstanden?«
»Ja«, antwortete ich und fühlte mich ein bisschen dumm dabei.
»Dann unterschreiben Sie bitte hier. Und noch das Datum, dann ist alles erledigt.«
»Aber wie bekomme ich das Geld?«
»Eröffnen Sie ein Bankkonto und geben Sie uns die Kontonummer.« Ich hatte noch nie ein Konto gehabt. Ein ehrenamtlicher Betreuer der holländischen Flüchtlingshilfeorganisation musste mit mir zur Bank gehen. Als die Bankangestellte fragte, ob ich Geld auf mein neues Konto einzahlen wolle, bot ich ihr die zehn Gulden aus meiner Ärmeltasche an. »Oh, nein, das behalten Sie lieber«, meinte sie. »Ist schon okay so.«
Sie
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