Ich bin eine Nomadin
arbeiten, nicht studieren, nicht heiraten, kaum rechtskräftige Dokumente unterschreiben oder auch nur das Haus verlassen. Sie dürfen nicht am öffentlichen Leben teilnehmen, und ihre Entscheidungsfreiheit hinsichtlich ihres Privatlebens ist stark, oft brutal, beschnitten. Sie dürfen nicht wählen, mit wem sie ins Bett gehen, und, wenn sie verheiratet sind, auch nicht, wann oder ob überhaupt sie mit ihrem Ehemann schlafen. Sie dürfen nicht entscheiden, was sie anziehen und ob sie arbeiten wollen.
Eine Frau muss ihrem Ehemann in allem gehorchen, außer natürlich, er verlangt von ihr, die muslimische Religion aufzugeben. Er ist ihr Vormund, und wenn sie nicht gehorcht, darf er sie schlagen. »Diejenigen aber, deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet, warnt sie, meidet sie in den Schlafgemächern und schlagt sie« (Sure 4,34). Es ist immer wieder lehrreich, Mitschriften von Fernsehdiskussionen von Imamen zu lesen, die sich zu der Frage äußern, welche Strafen (etwa Schläge auf die Gliedmaßen, vielleicht nur mit einem kleinen Stock) akzeptabel sind, wenn Ehemänner ihre Frauen züchtigen.
Wenn wohlmeinende Menschen im Westen, die gern »Respekt« für religiöse und kulturelle Minderheiten fordern, Praktiken wie Zwangsehen und Einsperren kleinreden, damit »die Gesellschaft aufhört, Muslime zu stigmatisieren«, verweigern sie zahllosen muslimischen Mädchen das Recht, sich aus der Kultur ihrer Eltern zu befreien. Sie werden den Idealen und Werten unserer demokratischen Gesellschaft nicht gerecht und sie schaden eben jener verwundbaren Minderheit, die sie doch schützen wollen.
Kapitel zwölf
GELD UND VERANTWORTUNG
Die Herausforderungen, denen man sich stellen muss, wenn man Bürger eines Staates werden will, sind ganz andere als diejenigen, die ein Stammesangehöriger meistern muss. In vieler Hinsicht sind die Herausforderungen der Staatsbürgerschaft leichter zu meistern als der Umgang mit den komplizierten Tabus und dem Aberglauben traditioneller Gesellschaften. Aber gerade weil die moderne Welt so einfach aussieht, ist sie so schwer fassbar, für manche Menschen sogar trügerisch. Sie ist eben nicht einfach. Wer nicht vorbereitet ist – wenn niemand einem beibringt, wie man einen angemessenen Zugang zur Sexualität findet oder wie man mit aggressiven Impulsen umgehen kann, ohne zu gewalttätiger Vergeltung zu greifen –, fällt natürlich auf das zurück, was er oder sie weiß und kennt. Unsere Gewohnheiten und Einstellungen sind vom Clan und vom Glauben geprägt worden. Doch die Werte der Blutlinie stimmen nicht mit jenen überein, die der Idee der Staatsbürgerschaft in der modernen Welt zugrunde liegen. Wer in einer modernen Gesellschaft vorankommen will, muss anachronistische, deplatzierte Haltungen ablegen. Das gilt für den Umgang mit Geld ebenso wie für Sex.
Im Jahr 1992 lebte ich in einem Asylbewerberzentrum in Lunteren, einem Dorf mitten in Holland, das stark von Landwirtschaft geprägt ist. Die Menschen dort sind strenge Protestanten, Angehörige der niederländisch-reformierten Kirche. Man hatte mir das größte Geschenk überhaupt gemacht: Ich hatte die Erlaubnis bekommen, mit dem sogenannten A-Status in den Niederlanden zu bleiben. Der A-Status erlaubt es, sich frei im Land zu bewegen, frei jede Religion auszuüben und jede politische Überzeugung zu vertreten. Für mich bedeutete es, dass ich der Ehe entkommen konnte, die mein Vater gegen meinen Willen für mich geschlossen hatte. Ich hatte auch Zugang zu den Leistungen des niederländischen Wohlfahrtsstaats.
Sobald ich den A-Status erhalten hatte, musste ich ins Rathaus zu einer Sozialarbeiterin gehen, Formulare ausfüllen und einen Antrag auf einen Personalausweis stellen. Außerdem konnte ich eine Sozialwohnung beantragen und erhielt Arbeitslosenhilfe in Höhe von tausendzweihundert Gulden pro Monat. Bisher wusste ich nicht viel über Geld, und so erschien mir das als eine riesige Summe (heute wären es rund fünfhundertfünzig Euro). Vor meiner Ankunft in Europa hatte ich nie eigenes Geld gehabt.
Im Asylbewerberzentrum, wo ich gewohnt hatte, bevor ich als Flüchtling anerkannt wurde, bekam ich alle drei Monate hundertfünfzig Gulden (rund siebzig Euro), um Kleidung zu kaufen, dazu ein Taschengeld von zwanzig Gulden (etwa neun Euro) pro Woche. Jeden Dienstag stand ich im Asylbewerberzentrum in der Schlange, zeigte dem Mann oder der Frau am Schalter meine pinkfarbene Karte, bekam zwei strahlend blaue Zehn-Gulden-Scheine ausgehändigt
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