Ich bin eine Nomadin
musste.
»Der Nächste, bitte!«, rief eine blonde Frau mit einem Schal um den Hals und einem verkniffenen Lächeln auf den schmalen Lippen.
Schnell eilte ich zu ihrem Schalter. Ich sagte: »Das bin ich, Ali!«
»Zeigen Sie mir Ihren Ausweis«, verlangte sie.
Ich trug eine Jacke mit fünf Taschen. Ich zog den Reißverschluss meiner rechten Seitentasche auf, schob meine Hand hinein, und der Ausweis war nicht darin. In der linken Seitentasche war er auch nicht. Ich suchte in den Brusttaschen und fand ihn schließlich sicher verwahrt in meiner Ärmeltasche, zusammen mit ein paar Münzen und einem Zehn-Gulden-Schein für den Bus, falls mein Fahrrad einen Platten hatte.
Meine Tasche im Jackenärmel war für mich, was für die Holländer die Sparbüchse war und für meine Großmutter der Kopfkissenbezug. Mein Ausweis und meine zehn Gulden waren die kostbarsten Dinge, die ich bei mir trug, also bewahrte ich sie dort auf.
Auf Ämtern war ich immer nervös, und halb rechnete ich schon damit, die Frau würde mir sagen, ich solle doch in mein Land zurückgehen. Ich stellte mir vor, sie würde die Geduld verlieren und mich anherrschen: »Was hast du hier zu schaffen? Verschwinde! Geh zurück zu deinen Eltern.« Oder dass sie in diesem verschwörerischen Ton, den ich von so vielen Beamten in Afrika kannte, sagen würde: »Haben Sie ein Geschenk für mich?« – und damit meinte: Gib mir Bestechungsgeld!
Stattdessen wartete sie geduldig, bis ich meinen Ausweis gefunden hatte und ihn hinüberreichte. Sie schaute mich an, dann das Bild auf meinem Ausweis und dann wieder mich und die Papiere, die sie in einer Akte vor sich liegen hatte, in der offenbar alle Einzelheiten meines Falls seit meinem Asylantrag gesammelt waren.
»Nennen Sie mir Ihren Vornamen«, sagte sie.
»Ayaan.«
»Und Ihr Nachname?«
»Bei uns gibt es keine Nachnamen«, erklärte ich. »Ich kann Ihnen meine Abstammungslinie nennen.«
»Ist das Hirsi?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete ich, »er ist der Sohn von Ali.«
»Ali?«, sagte sie und nickte. »Gut, kommen Sie bitte mit.«
Ich ging um den Schalter herum, und sie führte mich in ein kleines Büro. Dort setzte sie sich hinter den Schreibtisch und fragte, ob sie mir Tee, Kaffee, Wasser oder etwas anderes zu trinken bringen könne. Sie musste mir meine Nervosität angesehen haben.
»Ich hole mir selbst einen Kaffee«, sagte sie. »Ich bringe Ihnen gern etwas mit.«
»Okay«, sagte ich. »Kaffee, bitte.«
Als sie zurückkam, lächelte sie und sagte: »Glückwunsch, Sie haben jetzt eine Wohnung in Ede. Für die Einrichtung werden Sie Geld brauchen. Haben Sie Ersparnisse?«
»Ersparnisse?« Dieses Wort hörte ich damals wahrscheinlich zum ersten Mal. Meine Großmutter nähte das Geld, das meine Mutter, ihre Söhne oder mein Vater ihr gaben, immer in ihren Kissenbezug ein, und sie schien nie etwas davon auszugeben. »Was ist das?«, fragte ich.
»Haben Sie Geld zurückgelegt?«
»Wir bekommen nur zwanzig Gulden die Woche«, sagte ich, »und die sind immer schon am selben Tag weg.« So kam es mir wirklich vor. Es war nicht so, dass ich das Geld ausgeben wollte – es spazierte einfach aus meiner Tasche hinaus.
»Sie haben also kein Geld gespart?«, stellte sie fest.
»Nein«, murmelte ich. Ich schämte mich, obwohl ich nicht genau wusste, warum. In Holland schienen alle immer sehr offen über Geld zu reden, doch ich hatte damit Probleme. Noch peinlicher war mir, dass ich die Bedeutung von Worten wie »Ersparnisse« nicht kannte, und all diese seltsamen Dinge, von denen sie jetzt redete. Die Vorstellung, Geld auf einem Konto zu sparen, auf dem man Zinsen bekommt, war mir völlig fremd.
»Okay«, sagte sie. Sie blieb höflich, warm, geradezu freundlich mir gegenüber. Sie urteilte nicht. Doch bei ihrer nächsten Frage verschluckte ich mich fast an meinem Kaffee.
»Haben Ihre Eltern Geld für Sie angelegt?«
Das war eine unfassbare Frage, die mit einem Schlag die riesige Kluft zwischen Holland (oder dem Westen) und der Nomadenkultur, aus der ich stammte, offenbarte. Diese Frau ging davon aus, dass die meisten Eltern in der Lage sind, Geld für ihre Kinder zu sparen und es auf eigenen Konten auf die Namen ihrer Kindes anzulegen.
»E-e-e-Eltern?«, stotterte ich.
»Haben Sie keine Eltern?«, fragte sie. »Wo sind sie?«
Ich kam ins Schwitzen, ich konnte die Feuchtigkeit unter meinen Achseln spüren. Je mehr ich versuchte, nicht nervös zu wirken, umso deutlicher sah man es mir an, dachte ich. Ich
Weitere Kostenlose Bücher