Ich Bin Gott
sie in den vierten Stock hinauf, wo sie die gesuchte Wohnung sofort sahen. An einer Tür waren, ein wenig nachlässig, gelbe Klebestreifen angebracht, die signalisierten, dass dieser Ort nicht betreten werden durfte, weil hier polizeiliche Ermittlungen stattfanden.
Vivien riss die Siegel ab und drehte den Schlüssel im Schloss herum.
Als sie die Tür öffnete, schlug ihnen sofort die triste Atmosphäre länger schon nicht mehr bewohnter Wohnungen entgegen. Die Tür führte direkt in einen Raum, der Wohnzimmer und Küche zugleich war. Auf den ersten Blick war zweifelsfrei zu erkennen, dass dies die Wohnung eines alleinstehenden Mannes war. Alleinstehend und ohne irgendein Interesse an der Welt. Rechts befand sich eine Kochecke mit Kühlschrank, daneben ein Tisch, an dem ein einziger Stuhl stand. Auf der anderen Seite, direkt neben dem Fenster, standen ein Sessel und ein wackeliges Tischchen mit einem alten Fernseher darauf. Alles war von einer dünnen Staubschicht bedeckt, in der die Spuren der Durchsuchung vom Vortag zu erkennen waren.
Sie betraten die Wohnung wie einen Tempel des Bösen, mit angehaltenem Atem, denn in diesen vier Wänden hatte ein Mann in der Gesellschaft von Geistern gewohnt, geschlafen und gegessen, Geistern, die nur er sehen konnte und die er auf die grausamste Weise zu bekämpfen beschlossen hatte.
Jetzt, da sie eine Ahnung von seiner Lebensgeschichte hatten, kannten sie die Dimension dessen, was Tag für Tag seinen Groll geschürt und ihn schließlich in den zerstörerischen Wahnsinn getrieben hatte.
Er hatte beschlossen, Menschen zu töten, weil er damit seine Erinnerungen töten zu können vermeinte.
Sie sahen sich in dem kahlen Raum um. Hier war nichts Überflüssiges zu finden. Keine Bilder, kein Nippes, kein Zugeständnis an den persönlichen Geschmack, es sei denn, man betrachtete die Abwesenheit eines persönlichen Geschmacks als solchen. Neben dem Kühlschrank befand sich der einzige Hinweis auf den Alltag eines Menschen, ein volles Gewürzregal, das davon zeugte, dass der ehemalige Bewohner zu Hause gekocht hatte.
Das Schlafzimmer bildete den Abschluss ihrer Besichtigungsrunde in der winzigen Wohnung. Rechts von der Tür stand ein Schrank, ihm gegenüber ein schmales Bett und zwischen diesem und der Wand ein Nachttisch mit einer Nachttischlampe. In der anderen Zimmerhälfte standen zwei Böcke, auf die zwei Holzplatten gelegt waren, eine auf Tischhöhe und die andere auf der unteren Auflage, wenige Zentimeter über dem Fußboden. Hier befand sich auch die zweite Sitzmöglichkeit der Wohnung, ein alter Bürostuhl auf Rollen, der so mitgenommen aussah, als käme er vom Sperrmüll. Auch in diesem Raum waren die Wände kahl, von einem großen Stadtplan von New York, der über dem Arbeitstisch hing, mal abgesehen.
Auf der unteren Platte lagen etliche Bücher, einige Zeitschriften, ein Kartenspiel, das eher an endlose Patiencen denken ließ als an vergnügliche Spielrunden im Kreise von Freunden, und schließlich eine große Mappe aus grauem Karton.
Vivien trat näher.
Wenn das der Ort war, an dem der Mann seine grausamen Vorhaben geplant hatte, dann mussten die Ermittler bei der Durchsuchung am Vortag doch schon einiges mitgenommen haben. Der Captain hatte ihr allerdings versichert, dass alles im Originalzustand geblieben war, also hatten sie vielleicht gar nichts gefunden.
Vivien bückte sich und sah sich die Bücher an. Eine Bibel. Ein Kochbuch. Ein Thriller von Jeffrey Deaver, einem Autor, den sie auch sehr mochte. Ein Reiseführer von New York.
Dann legte sie die Mappe auf die obere Platte und schlug sie auf. Lauter Zeichnungen, die eines gemeinsam hatten: Statt auf normalem Papier waren sie auf kräftiger, durchsichtiger Kunststofffolie ausgeführt, als hätte sich der Künstler, außer durch Talent, auch noch durch Originalität hervortun wollen.
Sie sah die Zeichnungen durch. Das Material mochte von Originalität zeugen, doch selbst für einen Laien war rasch ersichtlich, dass der Künstler kein Talent besessen hatte. Die Anlage war ungeschickt, die Pinselführung unsicher, und die Farbe war ohne Stilgefühl und technisches Können aufgetragen. Der Mensch, der in dieser Wohnung gewohnt hatte, schien von Konstellationen besessen gewesen zu sein, denn jede der Zeichnungen stellte so etwas wie eine Sternenkarte dar, eine Sternenkarte, die nur im Kopf des Künstlers existiert hatte.
Konstellation der Schönheit, Konstellation von Karen, Konstellation des Endes,
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