Ich Bin Gott
sich zu entfernen. Wie eine Anklage kamen ihr die Worte in den Sinn, die sie zuvor zu ihm gesagt hatte.
Sie seien ein Team, hatte sie gesagt.
Er hatte ihr vertraut, und sie hatte ihn verraten.
30
Als Vivien die Tür öffnete, sah sie den verlassenen, schlecht beleuchteten Flur vor sich. Das schummrige Licht und die Vorstellung, dass dieser Mann jahrelang durch diesen Flur gegangen war, dass er jeden Tag die Füße auf diesen Teppichboden von undefinierbarer Farbe gesetzt hatte, machten dieses Haus zu einem bösartigen und feindlichen Ort.
Eine alte schwarze Frau mit unglaublich krummen Beinen und vielen Falten im Gesicht bog um die Ecke und kam auf sie zu. Mit der einen Hand stützte sie sich auf einen Stock, in der anderen hatte sie eine Einkaufstüte. Als sie sah, wie Vivien die Tür hinter sich zuzog, konnte sie sich einen Kommentar nicht verkneifen.
» Ah, endlich hat man sie an ein menschliches Wesen vermietet.«
» Wie bitte?«
Die Alte gab keine weiteren Erklärungen ab, sondern blieb vor der gegenüberliegenden Wohnungstür stehen und hielt Vivien ohne Umschweife die Tüte hin. Wahrscheinlich hatten Alter und Gebrechen sie gelehrt, sich durchzusetzen, statt um etwas zu bitten. Oder sie glaubte, Alter und Gebrechen gäben ihr das Recht, sich die Dinge einfach zu nehmen.
» Halten Sie das mal. Aber Sie sollten gleich wissen, dass ich kein Trinkgeld gebe.«
Aus der Einkaufstüte, die Vivien unvermittelt in den Händen hielt, roch es nach Zwiebeln und Brot. Auf ihren Stock gestützt kramte die Alte in den Taschen ihres schweren Mantels, zog schließlich einen Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss. Dann antwortete sie auf eine Frage, die niemand gestellt hatte.
» Gestern sind Polizisten hier gewesen. Ich hab ja immer gewusst, dass der ein schlechter Mensch ist.«
» Die Polizei?«
» Ja. Auch so eine Saubande. Sie haben geklingelt, aber ich habe nicht aufgemacht.«
Nach dieser offenen Misstrauensbekundung beschloss Vivien, lieber nicht zu sagen, wer sie war. Als die Alte die Tür geöffnet hatte, erschien sofort eine große schwarze Katze im Türspalt. Als sie merkte, dass eine Fremde neben ihrer Herrin stand, lief sie weg. Automatisch achtete Vivien darauf, ob das Tier noch alle vier Beine hatte.
» Wer hat denn vor mir hier gewohnt?«
» Ein Typ mit einem schlimm zugerichteten Gesicht. Ein richtiges Monster. Vom Aussehen her, aber auch vom Verhalten. Dann ist eines Tages der Krankenwagen gekommen und hat ihn mitgenommen. Hoffentlich in die Irrenanstalt.«
Mit ihrem lapidaren, erbarmungslosen Urteil hatte die Frau ins Schwarze getroffen. Eine Irrenanstalt wäre in der Tat der Ort gewesen, an dem dieser Mann den Rest seines Lebens hätte verbringen sollen.
Die Alte trat in die Wohnung und wies mit einer Kopfbewegung zum Tisch.
» Stellen Sie das da hin.«
Vivien folgte ihr und stellte fest, dass die Wohnung spiegelverkehrt zu jener war, die sie gerade durchsucht hatte. Im Zimmer befanden sich außer der schwarzen noch zwei weitere Katzen. Eine weiß-rote lag unter einem Stuhl und schlief, ohne sich stören zu lassen. Eine getigerte sprang auf den Tisch. Vivien stellte die Tüte ab, und die Katze kam sofort herbei und schnupperte daran.
Die Frau gab ihr einen Klaps.
» Weg da. Fressen gibt’s später.«
Die Katze sprang hinunter und flüchtete unter den Stuhl zu der schlafenden.
Vivien sah sich um. Das Zimmer war der Triumph des Unzusammengehörigen. Kein Stuhl glich dem anderen, und auch die Gläser auf dem Regalbrett über der Spüle waren alle verschieden. Ein Chaos an Farben und altem Kram. Der Katzengeruch war in der Wohnung noch schlimmer als im Hauseingang.
Die Alte drehte sich zu Vivien um und sah sie an, als wäre sie vom Himmel gefallen.
» Wo war ich stehen geblieben?«
» Sie haben über den Mieter von der Wohnung gegenüber gesprochen.«
» Ach ja, der. Der ist nicht wiedergekommen. Nur der andere Mann war ein paarmal hier, um sie sich anzugucken. Aber sie hat ihm wohl nicht gefallen, denn er hat sie nicht genommen. Wer weiß, in welchem Zustand sie war.«
Viviens Herz schlug schneller.
» Ein anderer Mann? Der Vermieter hat mir nichts davon erzählt, dass noch jemand Interesse an der Wohnung hatte.«
Die alte Frau zog den Mantel aus und warf ihn über eine Stuhllehne.
» Das ist schon eine Weile her. Ein großer Mann mit einer grünen Jacke. Von der Army, glaube ich. Der war auch komisch. Er ist ein paarmal gekommen und dann nie wieder. Zum Glück hat er die
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