Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
versetzt, und meine Lebenssignale wurden immer schwächer. Gesicht und Körper waren angeschwollen, Nieren und Lungen stellten allmählich ihre Funktion ein. Mein Vater meinte, es sei eine Qual gewesen, mich an all diese Schläuche angeschlossen zu sehen. Er glaubte, ich sei klinisch tot, und war am Boden zerstört. »Es ist zu früh«, sagte er sich. »Sie ist doch erst fünfzehn. Soll ihr Leben wirklich hier schon enden?«
Meine Mutter betete unablässig und hatte nur wenig geschlafen. Mein Onkel Faiz Mohammad sagte ihr, sie solle die Sure über den Haj rezitieren, das Kapitel im Koran, in dem die obligatorische Pilgerfahrt der Muslime beschrieben wird. Wieder und wieder sprach sie die nämlichen zwölf Verse ( 58 bis 70 ), die von der Allmacht Gottes handeln. Sie sagte zu meinem Vater, sie glaube, ich würde es schaffen, doch er meinte, er wüsste nicht, wie das zugehen sollte.
Als Oberst Junaid kam, um nach mir zu schauen, wollte mein Vater erneut wissen: »Wird sie überleben?«
»Glauben Sie an Gott?«, fragte der Arzt zurück.
»Ja«, antwortete mein Vater.
Mein Vater hielt Oberst Junaid für einen Mann von großer spiritueller Reife. Sein Rat war, Gott zu danken, denn dann würden all unsere Gebete erhört werden.
Zuvor, am späten Mittwochabend, waren zwei Militärärzte aus Islamabad eingetroffen, Spezialisten auf dem Gebiet der Intensivmedizin. Auch diese hatte General Kayani geschickt. Die britischen Ärzte hatten ihn nämlich darüber informiert, dass ich entweder einen Gehirnschaden erleiden oder sterben würde, wenn man mich in Peshawar ließe, weil die Intensivmedizin dort nicht besonders gut ausgestattet sei. Außerdem bestünde ein hohes Infektionsrisiko. Sie hatten dafür plädiert, mich ins Ausland zu verlegen. Bis dahin sollte man einen Spitzenmediziner holen, der sich um mich kümmerte.
Im Moment aber sah es so aus, als wären sie zu spät gekommen. Die Belegschaft des Krankenhauses hatte keine der Veränderungen vorgenommen, die Dr. Reynolds vorgeschlagen hatte, und mein Zustand verschlechterte sich infolge einer Infektion im Laufe der Nacht zusehends. Am Donnerstagmorgen rief einer der beiden Militärärzte, Brigadier Aslam, Dr. Reynolds an. »Malala ist in einem schlechten Zustand«, meinte er zu ihr. Ich hatte eine Sepsis entwickelt und dazu noch eine Blutgerinnungsstörung. Mein Blutdruck war sehr niedrig, der pH-Wert des Blutes gesunken. Ich schied keinen Urin mehr aus, was auf ein beginnendes Nierenversagen hindeutete, und meine Laktatwerte waren enorm gestiegen. Offensichtlich war alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen konnte.
Dr. Reynolds war bereits auf dem Weg zum Flughafen, um nach Birmingham zurückzufliegen. Ihr Gepäck hatte sie schon vorausgeschickt. Nachdem man ihr aber die neuesten Entwicklungen mitgeteilt hatte, wollte sie unbedingt helfen. Zwei Krankenschwestern aus Birmingham blieben ebenfalls da. Am Donnerstag um die Mittagszeit war Dr. Reynolds zurück in Peshawar. Sie teilte meinem Vater mit, dass ein Militärhubschrauber mich nach Rawalpindi in ein Armeekrankenhaus bringen würde, dort gäbe es die besten Intensivmediziner. Mein Vater meinte, ein Kind in meinem Zustand könne man doch wohl kaum transportieren, aber die Ärztin sagte, sie habe schon viele solcher Krankenüberführungen geleitet, er brauche sich keine Sorgen zu machen. Dann fragte er, ob überhaupt noch Hoffnung für mich bestünde. »Gäbe es keine Hoffnung, wäre ich nicht hier«, antwortete sie. Mein Vater erzählte später, in diesem Augenblick habe er die Tränen nicht zurückhalten können. Eine Krankenschwester sei gerade vorbeigekommen, sie hätte Malala Augentropfen verabreicht. »Sieh, Khaista«, sagte meine Mutter. »Dr. Reynolds hat recht. Hätte Malala keine Überlebenschance, würden die Schwestern ihr sicher keine Augentropfen geben.« Die Ärztin sah auch nach Shazia. Sie erzählte meinem Vater, dem anderen angeschossenen Mädchen gehe es gut, Shazia habe sogar darum gebeten, sich um Malala zu kümmern.
Ein Motorradkonvoi mit Blaulicht eskortierte den Krankenwagen, in dem ich lag, zum Hubschrauberlandeplatz. Der Flug mit dem Helikopter dauerte eine Stunde und fünfzehn Minuten. Dr. Fiona Reynolds hatte sich während der ganzen Zeit nicht eine Sekunde hingesetzt. Sie war so mit der Kontrolle der Instrumente beschäftigt gewesen, dass es für meinen Vater aussah, als liefere sie sich einen Kampf mit ihnen.
Die Ärztin tat, was sie schon seit Jahren tat. Die eine Hälfte
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