Ich bin unschuldig
dann richte ich mich kerzengerade auf und gehe hinüber, als wären wir alte Freunde und das Leben ganz normal. »Konnten Sie es nicht erwarten?«, frage ich ihn von hinten.
Er blickt entrüstet auf. »Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen.«
»Nicht, seit Sie heute Morgen Ihr Körpergewicht in Custard Tarts verputzt haben.«
»Oh. Ja, die hab ich ganz vergessen.«
»Charmant.« Ich lege den Mantel ab und hänge ihn über die Stuhllehne. Es ist viel los. Eine bunt gemischte Schar – Singles, die direkt von der Arbeit kommen, Paare, die sich einen schönen Abend machen, Frauen, die kleinen Kindern kalte Pommes frites aufnötigen. Niemand achtet auf mich, doch ich setze mich rasch und wende das Gesicht ab.
Jack hat eine trendige Karaffe französischen Weins auf dem Tisch stehen. Mit einer stummen Geste bietet er mir ein Glas an, und ich nehme ebenso wortlos an, lehne mich zurück und genehmige mir einen ordentlichen Schluck. Er steigt mir direkt in den Kopf. Kurz schließe ich die Augen und gebe dem Alkohol ein paar Minuten, um Philips Anruf vergessen zu machen.
Als ich sie wieder aufschlage, sieht Jack mich mit leicht gerunzelter Stirn an. »Neue Frisur?«
»Alle abgeschnitten.«
»Macht Sie jünger.«
»Danke. Ich …«
Er fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Bin froh, dass Sie gekommen sind. Ich weiß, dass wir einiges zu besprechen haben, aber zuerst, Gott, dieser Nachmittag, dieser Typ …«
Das war’s also zu meinen Haaren. Er erzählt von dem Vater des toten Jungen und wie er, als die Bombe detoniert war, runter zur Rezeption gerannt war und die Trümmer durchsucht hatte, Mauerteile weggehievt und in Leichenteilen gewühlt hatte, Antworten von der Polizei, von Ämtern und Krankenhäusern verlangt hatte, wie er die ganze Ferienanlage mit Postern zugepflastert hatte. Nach einer Woche verzweifelter Suche war er schließlich fünf Stunden durch die Wüste zu einem Leichenhaus in einem anderen Teil von Ägypten gefahren, wo der Leichnam seines Sohnes lag.
Als er an diese Stelle kommt, krempelt Jack sorgfältig die Ärmel seines weißen Hemds hoch, einen Umschlag nach dem anderen. Es ist keine entspannte Bewegung. Sie ist kontrolliert, doch seine Hände zittern. »Inzwischen waren er und seine Frau und ihre zwei anderen Söhne in ein anderes Hotel verlegt worden – viel vornehmer als das, das sie gebucht hatten –, und wenn sie nicht suchten, saßen sie am Pool. Können Sie sich das vorstellen? Sie wussten nicht, was sie sonst machen sollten.«
»Die Banalität der Tragödie, was?« Ich schüttele den Kopf. »Die Tatsache, dass das Leben einfach weitergeht, dass die Kinder eine Cola möchten. Wahrscheinlich haben sie die Unterwäsche im Bad ihres Zimmers mit der Hand ausgewaschen.«
»Die Sonnenmilch ist ihnen ausgegangen. Sie mussten welche im Hotelladen kaufen.« Er trinkt einen Schluck Wein.
»Verdammt.«
»Seine Frau habe ich nicht gesehen – sie wollte mich nicht kennenlernen –, aber ich konnte sie durch die Wand hören. Sie hat die ganze Zeit Geschirr gespült.«
»Gott. Unter solchen Umständen ein Kind zu verlieren.«
Ich seufze schwer. Das Entsetzen, die Endgültigkeit des Todes, es ist mehr, als ich ertragen kann. Starkes Mitleid mit diesen Eltern kommt hoch und gerät dann ins Stocken. Jeder ist jemandes Kind. Ania. Alfie, der kleine Beißer. Millie. Allein bei dem Gedanken könnte ich sterben.
»Er wollte mir alles bis ins kleinste Detail erzählen.«
»Vielleicht dachte er, wenn er die Geschichte immer weitererzählte, hätte sie ein anderes Ende, dann hätte er eine gewisse Kontrolle darüber, wie sie ausgeht.«
»Ja. Vielleicht. Und jetzt kämpft er darum, dass das Versorgungsrecht geändert wird, aber eigentlich geht es ihm gar nicht darum. Er will seinen Sohn wiederhaben.«
»Der Arme.« Ist es zu früh, um das Thema zu wechseln? Wir wissen nicht mehr, was wir noch sagen sollen, aber wir können uns nicht gleich auf mich stürzen. Nicht einmal auf den Mann vor meinem Haus. Es wäre herzlos. Ich seufze noch einmal. »Meine Probleme kommen mir dagegen so mickrig vor …«
Jack lächelt mich an, als würde er mich schon sein ganzes Leben lang kennen. »Hören Sie«, sagt er. »Wir waschen Ihren Namen rein. Sie sitzen bald wieder auf diesem Sofa.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich das noch will.« Ich erzähle ihm, wie gut India war und wie schlecht ich in letzter Zeit war und dass meine Karriere womöglich vorbei ist, dass ich aber nicht weiß, was ich sonst
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