Ich bin unschuldig
einmal geheiratet?«
Ich überlege gründlich. Will ich das wirklich später im Artikel lesen? »Im Vertrauen?«
»Im Vertrauen.«
»Tot.«
»Mist.«
Ich lache. »Ja, Mist.«
»Was ist passiert?«
Ich habe seit Jahren nicht darüber gesprochen. Ich fühle mich nicht wohl damit, die Worte »mein« und »Vater« zusammenzusetzen; es gibt keine Beziehung, auf die ich mich berufen könnte. In der Presse habe ich noch nie darüber geredet, und ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt? Will ich das wirklich mit Jack zusammen auspacken? Will ich, dass er dieses Material sammelt oder benutzt oder auch nur im Hinterkopf müßig darüber sinniert? Fange ich gleich an zu weinen? Ich trinke noch einen Schluck Wein. »Da gibt es nicht viel zu berichten. Er starb, als ich noch ein Baby war. Er war manisch-depressiv, und er hat sich umgebracht, indem er gegen einen Baum gefahren ist. Eine Regennacht. November.«
»Unfall oder …?«
»Meine Mutter hat niemals das Wort ›Selbstmord‹ in den Mund genommen. Doch es schwebte in der Luft, sooft ein Verwandter seinen Namen erwähnte.«
Als Teenager habe ich Jungen spät in der Nacht von meinem toten Vater erzählt. Schon damals hatte ich Schuldgefühle. Es war wie ein Trick, eine Möglichkeit, Nähe herzustellen. Jetzt habe ich das beunruhigende Gefühl, als würde etwas Ähnliches ablaufen. Dieses Geständnis war nicht als Einladung zu Vertraulichkeiten gedacht gewesen, doch ich hätte vorsichtiger sein sollen.
»Hart für Ihre Mutter, mit einem kleinen Kind.«
Ich habe komisch angefangen zu atmen, als würde von unten etwas gegen das Zwerchfell drücken. Das habe ich nicht gemeint, als ich von »etwas Interessanterem« sprach. Meine Stimme klingt gepresst. »Es war nicht leicht für sie. Sie war eine Frau, die einen Mann brauchte. In dieser Hinsicht war ihr Leben eine lange Reihe tragischer Misserfolge. Nur eine Beziehung hat gehalten. Die mit dem Schnaps.«
»O Gott, tut mir leid.«
»Muss es nicht. Es war ihre Tragödie, nicht meine. Ich war immer eigenständig. Reif für mein Alter, haben die Lehrer gesagt. Einige haben sich ein bisschen um mich gekümmert. Genauso wie die Eltern von Freunden.«
»Haben Sie unter ihre Fittiche genommen?«
»Und dafür gesorgt, dass ich mich an der Uni bewerbe und so. Und zu ihrer Ehre muss ich sagen, dass meine Mutter es während meiner Kindheit einigermaßen im Griff hatte. Erst als ich auszog, ging es ein … richtig bergab. Aber hören Sie, ich mag nicht … normalerweise … wissen Sie, die Kindheit! Alter Hut!«
»Geschwister?«
»Nein. Hab mich immer nach einer großen Familie gesehnt, aber leider nein. Nur ich. Typisches Einzelkind.«
»Ebenso draufgängerisch wie unsicher?«, fragt er freundlich.
»Aha«, sage ich. »Direkte Verbindung zwischen Alkoholikerin zur Mutter und ›unberechenbarer Fahrweise‹. Jetzt verstehe ich.«
»Ich denke«, sagt er, und um seine Augen bilden sich Fältchen, »ich denke, das haben Sie falsch verstanden.« Er sieht mich an, immer noch lächelnd. Ein Schock durchzuckt die Luft, ein winziger Augenblick, in dem sich eine Möglichkeit auftut. Vielleicht ist es der Wein, aber all das hier war nicht das, wofür ich es gehalten habe: keine schuldbewusste Offenbarung, sondern eine Befreiung.
Eine von den Frauen mit den kleinen Kindern hat zweimal zu uns herübergesehen. Sie hat die Stirn gerunzelt, als wollte sie das Bild über Jacks Kopf genauer betrachten. Jack bemerkt es und verzieht das Gesicht. Er bezahlt die Rechnung – hält sie steif von mir weg, wie ein Reiseleiter sein Fähnchen über den Kopf hält –, und bevor die Frau ihre Tischnachbarinnen anstupsen kann, sind wir raus in die Nacht.
Der Himmel ist klar und mit Sternen übersät. Von einer Party in einem oberen Stockwerk dringen Rufe herunter. Ein Auto mit dröhnender Musik fährt vorbei. Jack sagt, er bringt mich nach Hause. Insgeheim bin ich ihm dankbar. Wir gehen langsam die Straße rauf, an Fahrrädern und Mülleimern und mit Abfall übersäten Geländern vorbei, an Häusern, wo Buchhalter schlafen und Anwälte und Lehrer, Kinder in Etagenbetten, Babys mit ausgestreckten Ärmchen und Beinchen in Gitterbettchen, Familien und Frischverheiratete und Studenten. Normalität.
Wir reden kaum. Der Wein ist mir in den Kopf gestiegen, die Welt ist voller flüssiger Bewegungen. Eine Mondsichel zieht tief über eine zitternde Silhouette aus Bäumen. Ich bibbere, aber leise, damit Jack es nicht mitbekommt. Als wir über die
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