Ich bin unschuldig
meine Freundin.
Jack sagt etwas, und ich höre nicht zu. Er versucht mich abzulenken. Er sagt etwas über seinen Auftrag, dass er hofft, er bringt es aufs Titelblatt.
Ich halte an der Ampel. »Worum geht es da noch mal?«, hake ich nach, um zu zeigen, dass ich ihm dankbar bin.
»Der Vater des Teenagers aus Tottenham, der bei der Hotelbombe vor ein paar Monaten am Roten Meer ums Leben gekommen ist. Erinnern Sie sich? Er hat einen Aufruf gestartet: Britische Familien bekommen eine Entschädigung, wenn Angehörige bei terroristischen Angriffen in der Heimat ums Leben kommen, aber nicht im Ausland. Das möchte er ändern.«
»Der Arme«, sage ich gedrückt: Was ist im Vergleich dazu schon ein Job? »Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste überhaupt.« Anias Eltern in Lodz. »Unvorstellbar.«
»Ein schwieriger Auftrag«, sagt er mit einem leisen Anflug von Selbstgefälligkeit.
»Ich habe – hatte – immer Schuldgefühle, wenn ich Menschen interviewen musste, die Schlimmes durchgemacht haben. Sie möchten reden, deswegen kommen sie ja; vermutlich ist es so was wie Therapie. Aber als Journalistin weiß man, dass man den O-Ton braucht, die Geschichte …«
»Man muss sich innerlich distanzieren«, sagt er kurz. »Der sein, der man sein muss. Eine Art Spiel spielen. Ein bisschen was von sich abhacken.«
»Sie Armer. Der Arme.« Ich schaue in den Spiegel und biege links auf die A3, nehme die mittlere Spur und beschleunige.
Ein Stück vor uns hat sich mit kreisender Signallampe ein Polizeiwagen schräg auf der Fahrbahn positioniert. Zwei Polizisten stehen daneben, einer streckt den Arm aus. Ich verlangsame. Ein weißer Lieferwagen stellt sich beinahe vor mir quer und kommt auf dem Seitenstreifen rutschend zum Stehen.
Ich fahre langsam vorbei. Im Rückspiegel sehe ich, dass die Polizisten sich dem Lieferwagen nähern. Ich schließe flüchtig die Augen, schüttele den Kopf. Es dauert ein paar Minuten, bis sich meine Nerven wieder beruhigt haben. Werde ich für den Rest meines Lebens beim Anblick von Polizisten erschrecken?
An dem Kreisverkehr vor uns stößt Jack ein Lachen aus. »Sie sind eine schreckliche Fahrerin. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts, dass ich das sage, aber das sind Sie wirklich.«
»Was?«
»Eine seltsame Mischung: gleichzeitig draufgängerisch und unsicher.«
»Bin ich das? Bin ich nicht. Ich bin keine schreckliche Fahrerin! Bin ich das wirklich?«
»Allerdings. Wie Sie gerade den Chrysler geschnitten haben, und dann setzen Sie sich vor ihn und bremsen.« Er putzt mich mal wieder spielerisch runter, diesmal, um mich abzulenken.
Ich biege auf die West Hill. »Ich weiß nicht, ob ich Sie wirklich zu einer U-Bahn-Haltestelle bringe. Ich setze Sie einfach hier irgendwo ab, dann haben Sie einen hübschen langen Fußmarsch.«
»Tut mir leid. Ich sage kein Wort mehr. Ja, ich mache einfach die Augen zu.«
Er schließt tatsächlich die Augen, lehnt sich im Sitz zurück und macht es sich bequem. Das lenkt mich wirklich ab. Er hat sich die Haare aus dem Gesicht gestrichen, und die leichte Bewegung seines Kopfes verrät mir, dass er dem Radio zuhört. Es läuft gerade ein Lied, das Philip nicht mag, eingängig und mit rüdem Text – Millie summt es die ganze Zeit. Wenn Philip neben mir säße, hätte er längst einen anderen Sender eingestellt, und ich würde mich ein wenig abgeurteilt fühlen. Es ist schockierend, wie nervös ich in letzter Zeit in Philips Gegenwart war, wie ich mir eingebildet habe, alles, was ich tue, werde mit einem fernen Ideal verglichen und als unzulänglich erachtet. Wie viel leichter es doch war, wenigstens vorübergehend davon frei zu sein.
Ich bin an der U-Bahn angekommen und fahre auf die Busspur, um anzuhalten.
»Dann einen schönen Tag«, sage ich und stelle mir für einen Augenblick vor, ich wäre eine Hausfrau aus Somerset – die, die ich geworden wäre, wenn die Dinge anders gelaufen wären –, die ihren Mann an einem ländlichen Bahnhof absetzt, bevor sie wieder nach Hause zu ihren Kindern fährt.
Jack öffnet die Augen und sieht mich an. Seine Miene ist freundlich, seine Lippen bewegen sich leicht. »Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren Job«, sagt er. »Es wird alles gut. Das geht vorüber, es ist ein Missverständnis. Sie sind viel zu wertvoll für die. Das kriegen Sie wieder hin.«
Er steigt aus, wirft sich die Tasche über die Schulter und klopft zweimal auf das Wagendach.
Zu Hause ziehe ich sofort die Zeitungen unter dem Sofa raus, die von gestern
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