Ich bleib so scheiße, wie ich bin
kommen sehr viele Leute auf die Idee, die in einer Therapie gewonnenen Selbsterkenntnisse doch noch zur Umgestaltung der ungeliebten Persönlichkeit zu nutzen.
In der Regel unterstützen Therapeuten diese Bemühungen, schließlich verdienen sie ihr Geld damit. Doch jeder erfahrene Therapeut wird zugeben, dass man zwar manches an sich erklären kann und dass diese Erklärungen dem einen oder anderen das Akzeptieren seiner Schwächen erleichtert, aber dass man sie deswegen noch lange nicht abstellen kann.
Bevor man jedoch anfängt, seine Ausreden selbst allzu ernst zu nehmen, sollte man sich zwischendurch klarmachen, wie es wirklich um einen steht, denn nachher ist man am Ende selbst davon überzeugt, dass man seine schlechten Angewohnheiten mit ein wenig Arbeit und Selbstdisziplin abstellen kann. Es schadet nichts, wenn die Umgebung von Zeit zu Zeit die Wahrheit über die eigene, unverbesserliche Person erfährt, denn es ist auf Dauer eine unbefriedigende Sache, sich ständig aus irgendwelchen Ansprüchen herauszuwinden. Irgendwann kommt der Punkt, an dem will man nicht in Ruhe gelassen, sondern verstanden werden!
Ich will meinen Freunden mitteilen, dass ich keine Lust habe, jenes zu tun, und nicht die Kraft habe, anderes zu unterlassen. Dass ich nicht weiß, warum ich immer wieder alle um mich herum verärgern muss, dass ich es aber auch nicht herausfinden möchte. Dass mir die Freunde meines Partners auf die Nerven gehen, obwohl sie mir nichts getan haben. Dass mir der Partner auf die Nerven geht, obwohl der mir nichts getan hat. Dass ich mich selbst schrecklich finde und trotzdem kein Verlangen verspüre, etwas an mir zu ändern. Dass ich mich nicht freuen will, weder an meinem Leben noch an meinen Möglichkeiten, noch an diesem schönen Tag. Dass ich meine Lebenszeit gerade lieber zum Fenster herauswerfen würde, als sie sinnvoll zu nutzen.
Vielleicht sollten wir überhaupt die Vorstellung aufgeben, dass da tief in uns drinnen ein reineres Ich existiert, welches nur verschüttet ist unter den Trümmern unserer Vergangenheit. Ein Ich, welches wir nur mit viel Arbeit an uns selbst freilegen müssen, damit wir endlich authentisch und kreativ leben können.
Der autonome, glückliche und von allen Traumata und Selbstzweifeln befreite Mensch ist ein theoretisches Konstrukt, eine Wahnvorstellung der Psychoindustrie und damit von uns selbst, in der Menschen wie meine ehemalige Vermieterin durch Therapeuten in ihrem Narzissmus bestärkt werden. Therapeut und Patient treffen sich dann regelmäßig, um an dieser Utopie zu arbeiten. Damit schaden sie zwar niemandem – vor allen Dingen deswegen nicht, weil einem das Leben schon zeigt, wann man sich mit seinen Vorstellungen zu weit von der Wirklichkeit entfernt –, nerven aber trotzdem ungemein. Wenn also meine ehemalige Vermieterin sich weiterhin an Radwegen postiert und dort anderen Verkehrsteilnehmern derart auf den Wecker fällt, bis sie doch noch mal eins auf die Fresse bekommt, wird sie ihr Treiben einstellen, ganz egal, was ihr die Therapeutin rät.
Es geht nicht darum, ob mein Handeln
richtig oder falsch ist, sondern ob ich
es mir erlauben kann.
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Nichts therapiert so sehr wie das Leben: Wer zu zwanghaft ist, sodass niemand mit ihm Zeit verbringen mag, wird sich überlegen, was ihm wichtiger ist – seine Gewohnheiten oder die Gesellschaft anderer Leute. Wer vor lauter Putzen nicht mehr dazu kommt, sich mit Freunden zu treffen, wird bestimmt von allein darauf kommen, dass es unangemessen ist, was er tut.
Überhaupt sollten wir mehr auf unseren Verstand vertrauen, denn Menschen können relativ gut einschätzen, was sie sich erlauben können und was nicht. Wie viele Eigenheiten und Spleens sie in der Arbeit, zu Hause oder bei Freunden ausleben dürfen, weil sie diese durch ihr Geld, ihren Charme und ihren Witz ausgleichen.
Warum aber rennen wir dann trotzdem zu Gurus und Therapeuten, wenn wir die Lösung zu unseren vermeintlichen Problemen in uns tragen? Die Menschen sind stets auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Weg zum freieren Ich abzukürzen. Zeugnisse, wie sie versuchen, die Utopie schneller zu erreichen als andere, findet man zum Beispiel auf YouTube, wo Menschen sich nach irgendwelchen Problembefreiungsritualen vor Begeisterung weinend und lachend in die Arme fallen, etwa in den Videos From Zero to Hero des Telefonakquise-Trainers Carsten Beyreuther.
Eine dieser Methoden wurde vor 30 Jahren populär, sie hieß NLP, Neurolinguistische
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