Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
muss, solange Ben weg ist, ehe er zurückkommt und sich wieder alles ändert. Vielleicht will ich die Autoschlüssel finden, die Tür aufbrechen und nach unten gehen, hinaus auf die verregnete Straße, zum Wagen. Obwohl ich nicht sicher bin, ob ich überhaupt Auto fahren kann, würde ich es vielleicht versuchen, würde einsteigen und ganz weit wegfahren.
Vielleicht will ich aber auch ein Foto von Adam finden. Ich weiß, dass sie da drin sind. Ich werde nur eines nehmen und dann werde ich das Zimmer verlassen und loslaufen. Ich werde laufen und laufen und dann, wenn ich nicht mehr laufen kann, werde ich Claire anrufen oder sonst wen, und ich werde sagen, dass ich es nicht mehr aushalte, und um Hilfe flehen.
Ich schiebe beide Hände tief in die Tasche. Ich fühle Metall und Plastik. Etwas Weiches. Und dann einen Umschlag. Ich ziehe ihn heraus, denke, es könnten Fotos drin sein, und sehe, dass es der ist, den ich zu Hause im Arbeitszimmer gefunden habe. Ich muss ihn beim Packen in Bens Tasche getan haben, vielleicht, um ihn daran zu erinnern, dass er noch ungeöffnet ist. Ich drehe ihn um und lese auf der Vorderseite das handschriftliche Wort
privat
. Ohne zu überlegen, reiße ich den Umschlag auf und nehme den Inhalt heraus.
Papier. Zahllose Seiten. Ich erkenne es. Die blassblauen Linien, der rote Rand. Es sind die gleichen Seiten wie in meinem Tagebuch.
Und dann erkenne ich meine eigene Handschrift und beginne zu begreifen.
Ich habe nicht meine ganze Geschichte gelesen. Es fehlt noch etwas. Diese Seiten.
Ich hole das Tagebuch aus meiner Tasche. Ich hatte es bisher nicht bemerkt, aber nach der letzten beschriebenen Seite ist ein ganzer Teil entfernt worden. Die Seiten sind säuberlich herausgetrennt worden, mit einem Skalpell oder einer Rasierklinge, ganz dicht an der Bindung.
Von Ben herausgetrennt.
Ich setze mich auf den Fußboden, die Seiten vor mir ausgebreitet. Sie umfassen die fehlende Woche meines Lebens. Ich lese den Rest meiner Geschichte.
***
Der erste Eintrag ist datiert. Freitag, 23. November steht da. Der Tag, an dem ich mich mit Claire traf. Ich muss das am Abend geschrieben haben, nach meinem Gespräch mit Ben. Vielleicht haben wir das Gespräch, das ich mir vorgenommen hatte, ja doch geführt.
Ich sitze hier auf dem Boden im Badezimmer, in dem Haus, in dem ich angeblich seit Jahren jeden Morgen aufwache. Ich habe dieses Tagebuch vor mir liegen, diesen Stift in der Hand. Ich schreibe, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll.
Um mich herum liegen zerknüllte Papiertaschentücher, getränkt mit Tränen. Und Blut. Wenn ich blinzele, sehe ich alles rot. Blut tropft mir ebenso schnell wieder ins Auge, wie ich es wegwische.
Im Spiegel habe ich gesehen, dass die Haut über meinem Auge aufgeplatzt ist, meine Lippe auch. Wenn ich schlucke, habe ich den metallischen Geschmack von Blut im Mund.
Ich möchte schlafen. Einen sicheren Ort finden, irgendwo, und die Augen schließen und mich ausruhen, wie ein Tier.
Genau das bin ich. Ein Tier. Ich lebe von Augenblick zu Augenblick, von Tag zu Tag, versuche vergeblich, die Welt zu begreifen, in der ich mich befinde.
Mein Herz rast. Ich überfliege den Abschnitt erneut, bleibe immer wieder an dem Wort
Blut
hängen. Was war passiert?
Ich lese jetzt schneller, mein Verstand stolpert über Worte, taumelt von Zeile zu Zeile. Ich weiß nicht, wann Ben zurückkommt, und ich kann nicht riskieren, dass er mir diese Seiten wegnimmt, ehe ich alles gelesen habe. Das hier ist vielleicht meine einzige Chance.
Ich hatte beschlossen, dass ich am besten nach dem Abendessen mit ihm spreche. Wir aßen im Wohnzimmer – Braten, Kartoffelpüree, die Teller auf den Knien balancierend –, und als wir beide fertig waren, bat ich ihn, den Fernseher auszumachen. Er wollte nicht. »Ich muss mit dir reden«, sagte ich.
»Schatz«, sagte Ben und stellte seinen Teller auf den Couchtisch zwischen uns. Ein angeschnittenes Stück Fleisch lag auf dem Tellerrand, ein paar Erbsen schwammen in dünner Soße. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte ich. »Es ist alles bestens.« Ich wusste nicht, wie ich fortfahren sollte. Er sah mich an, mit großen Augen, wartete. »Du liebst mich doch, oder?«, sagte ich. Ich hatte fast das Gefühl, als wollte ich Beweise sammeln, mich gegen eventuellen späteren Widerspruch absichern.
»Ja«, sagte er. »Natürlich. Worum geht’s denn? Was ist los?«
»Ben«, sagte ich. »Ich liebe dich auch. Und ich verstehe die Gründe für dein
Weitere Kostenlose Bücher