Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Ich hab gesagt, das ist nicht wahr, und dann –«
»Dann?«
»Dann hat er mich geschlagen.«
Schweigen, dann fragte Claire: »Hat er dich vorher schon mal geschlagen?«
Woher sollte ich das wissen? Vielleicht ja? Möglicherweise war Gewalt in unserer Beziehung schon immer an der Tagesordnung. Eine Erinnerung blitzte in mir auf: Claire und ich, auf einer Demo, selbstgemalte Schilder in der Hand –
Frauen, wehrt euch, Schluss mit häuslicher Gewalt
. Ich erinnerte mich, dass ich immer auf Frauen herabgeschaut hatte, die von ihren Männern geschlagen wurden und sie trotzdem nicht verließen. Sie waren schwach, fand ich. Schwach und dumm.
War es möglich, dass ich in dieselbe Falle getappt war wie sie?
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Ben gewalttätig wird, aber unmöglich ist es wohl nicht. Menschenskind! Sogar mir hat er früher oft Schuldgefühle eingeredet. Erinnerst du dich?«
»Nein«, sagte ich. »Nein. Ich erinnere mich an gar nichts.«
»Scheiße«, sagte sie. »Entschuldige. Hatte ich vergessen. Es ist einfach so schwer vorstellbar. Er hat mich damals davon überzeugt, dass Fische genauso ein Recht auf Leben haben wie Tiere mit Beinen. Er hat ja nicht mal Spinnen getötet!«
Der Wind lässt die Vorhänge wehen. In der Ferne höre ich einen Zug. Gekreische vom Pier. Unten auf der Straße ruft jemand »Verdammte Scheiße!«, und ich höre, wie Glas klirrend zerspringt. Ich will nicht weiterlesen, aber ich weiß, ich muss.
Ein Frösteln durchlief mich. »Ben war Vegetarier?«
»Veganer«, erwiderte sie lachend. »Sag nicht, das hast du nicht gewusst?«
Ich dachte an den Abend, als er mich geschlagen hatte.
Ein Stück Fleisch
, hatte ich geschrieben,
Erbsen, die in dünner Soße schwammen
.
Ich ging ans Fenster. »Ben isst Fleisch …«, sagte ich mit leiser Stimme. »Er ist kein Vegetarier … Jedenfalls nicht mehr. Vielleicht hat er seine Überzeugung geändert?«
Wieder langes Schweigen.
»Claire?« Sie sagte nichts. »Claire? Bist du noch dran?«
»Okay«, sagte sie. Sie klang jetzt wütend. »Ich ruf ihn sofort an. Ich klär das. Wo ist er?«
Ich antwortete, ohne nachzudenken. »In der Schule, vermute ich. Er hat gesagt, er ist nicht vor fünf zu Hause.«
»In der Schule?«, sagte sie. »Meinst du die Uni? Hat er jetzt eine Dozentenstelle?«
Furcht erwachte in mir. »Nein«, sagte ich. »Er unterrichtet an einer Schule hier in der Nähe. Ich hab den Namen vergessen.«
»Er ist Lehrer?«
»Ja. Fachbereichsleiter für Chemie, hat er gesagt, glaub ich.« Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht wusste, was genau mein Mann beruflich macht, mich nicht erinnern konnte, womit er das Geld verdient, von dem wir uns dieses Haus leisten können. »Ich weiß nicht mehr.«
Ich blickte auf und sah mein verquollenes Gesicht in dem Fenster vor mir. Das Schuldgefühl verflog.
»An welcher Schule?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich glaube, das hat er mir nicht erzählt.«
»Was denn? Nie?«
»Heute Morgen nicht, nein«, sagte ich. »Für mich ist das so gut wie nie.«
»Entschuldige, Chrissy. Ich wollte dich nicht ärgern. Es ist bloß, na ja –« Ich spürte, dass sie sich irgendetwas anders überlegte, den Satz abbrach. »Könntest du rausfinden, wie die Schule heißt?«
Ich dachte an das Arbeitszimmer oben. »Ich glaub schon. Wieso?«
»Ich würde Ben gern anrufen, mich vergewissern, dass er nach Hause kommt, wenn ich heute Nachmittag da bin. Ich will die Fahrt ja nicht umsonst machen!«
Ich hörte den aufgesetzt heiteren Tonfall in ihrer Stimme, sprach sie aber nicht darauf an. Ich hatte das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben, wusste nicht, was das Beste war, was ich tun sollte, und daher beschloss ich, mich meiner Freundin zu überlassen. »Ich seh mal nach«, sagte ich.
Ich ging nach oben. Das Arbeitszimmer war aufgeräumt, Unterlagen ordentlich auf dem Schreibtisch sortiert. Ich brauchte nicht lange, um ein Blatt mit einem Briefkopf zu finden, eine Einladung zu einem Elternabend, der inzwischen stattgefunden hatte.
»Die Schule heißt St. Anne«, sagte ich. »Willst du die Telefonnummer?« Sie sagte, sie würde sie selbst rausfinden.
»Ich ruf dich zurück«, sagte sie. »Ja?«
Wieder durchzuckte mich Panik. »Was willst du ihm sagen?«, fragte ich.
»Ich klär die Sache«, sagte sie. »Vertrau mir, Chrissy. Es muss eine Erklärung geben. Okay?«
»Ja«, sagte ich und legte auf. Ich setzte mich, mir zitterten die
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