Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
oberflächlich, dass ich ihn weniger oder mehr lieben würde, je nachdem, was er beruflich machte?
Und dann verstand ich.
»O Gott«, sagte ich. »Es ist meine Schuld!«
»Nein!«, sagte sie. »Es ist nicht deine Schuld!«
»Doch!«, sagte ich. »Es liegt an der Belastung, sich ständig um mich kümmern zu müssen. Sich dauernd mit mir auseinandersetzen zu müssen, tagein, tagaus. Er muss nervlich am Ende sein. Vielleicht weiß er selbst nicht mehr, was wahr ist und was nicht.« Mir kamen die Tränen. »Es muss unerträglich sein«, sagte ich. »Sogar die Trauer muss er ganz allein bewältigen, jeden Tag.«
Es wurde still in der Leitung, und dann sagte Claire: »Trauer? Was für Trauer?«
»Adam«, sagte ich. Es war eine Qual für mich, seinen Namen auszusprechen.
»Was ist mit Adam?«
Da begriff ich. Die Erkenntnis brach wild über mich herein, wie aus dem Nichts.
O Gott
, dachte ich.
Sie weiß es nicht. Ben hat ihr nichts gesagt.
»Er ist tot«, sagte ich.
Sie keuchte auf. »Tot? Wann? Wie?«
»Ich weiß nicht genau wann«, sagte ich. »Ich glaube, Ben hat gesagt, letztes Jahr. Er wurde im Krieg getötet.«
»Im Krieg? Was für ein Krieg?«
»Afghanistan?«
Und dann sagte sie es. »Chrissy, was soll er denn in Afghanistan gemacht haben?« Ihre Stimme klang seltsam. Fast erfreut.
»Er war in der Army«, erwiderte ich, doch noch während ich es aussprach, bezweifelte ich selbst, was ich da sagte. Es war, als würde ich mir endlich etwas eingestehen, was ich die ganze Zeit geahnt hatte. Ich hörte Claire schnauben, beinahe so, als fände sie etwas amüsant. »Chrissy«, sagte sie. »Chrissy, Schätzchen. Adam war nicht in der Army. Er war nie in Afghanistan. Er lebt in Birmingham, mit einer Frau namens Helen. Er ist in der Computerbranche. Er hat mir nicht verziehen, aber ich rufe ihn trotzdem von Zeit zu Zeit an. Es wäre ihm wahrscheinlich lieber, wenn ich es nicht täte, aber ich bin seine Patentante, erinnerst du dich?« Ich brauchte einen Moment, bis ich merkte, dass sie das Präsens benutzte, und im selben Augenblick sagte sie es.
»Ich hab ihn letzte Woche nach unserem Treffen angerufen«, sagte sie. Jetzt lachte sie fast. »Er war nicht da, aber ich hab mit Helen gesprochen. Sie hat gesagt, sie würde ihn bitten, mich rückzurufen. Adam lebt.«
Ich höre auf zu lesen. Ich fühle mich leicht. Leer. Mir ist, als könnte ich einfach umfallen oder davonschweben. Darf ich das glauben? Will ich es glauben? Ich stütze mich an der Kommode ab und lese weiter, nehme nur vage wahr, dass ich die Dusche im Bad nicht mehr laufen höre.
Ich muss gestolpert sein, hielt mich an einem Stuhl fest. »Er lebt?« Mir drehte sich der Magen um, ich erinnere mich, wie mir Galle in die Kehle stieg und ich sie runterschlucken musste. »Er lebt wirklich?«
»Ja«, sagte sie. »Ja!«
»Aber –«, stammelte ich. »Aber – ich hab eine Zeitung gesehen. Einen Ausschnitt. Da stand, dass er getötet wurde.«
»Der kann nicht echt gewesen sein, Chrissy«, sagte sie. »Unmöglich. Er lebt.«
Ich wollte etwas sagen, doch in diesem Moment traf mich alles auf einmal, jede Emotion verwoben mit jeder anderen. Freude. Ich erinnere mich an Freude. Das pure Glück zu wissen, dass Adam lebt, perlte auf meiner Zunge, wenn auch vermischt mit dem bitteren, beißenden Beigeschmack der Furcht. Ich dachte an meine Prellungen, die davon zeugten, mit welcher Brutalität Ben mich geschlagen haben musste. Vielleicht misshandelt er mich nicht nur körperlich, vielleicht macht er sich an manchen Tagen einen Spaß daraus, mir zu erzählen, dass mein Sohn tot ist, damit er mit ansehen kann, welchen Schmerz der Gedanke mir bereitet. War vielleicht auch denkbar, dass er mir an anderen Tagen, an denen ich mich daran erinnere, schwanger gewesen zu sein oder ein Kind geboren zu haben, lediglich erzählt, dass Adam weggezogen ist, im Ausland arbeitet, auf der anderen Seite der Stadt wohnt?
Und falls ja, wieso findet sich dann von diesen alternativen Wahrheiten keine einzige in meinem Tagebuch?
Bilder kamen mir in den Sinn, von Adam, wie er jetzt sein könnte, Bruchstücke von Szenen, die ich vielleicht verpasst hatte, doch ich konnte nichts davon länger festhalten. Jedes Bild glitt durch mich hindurch und war gleich darauf verschwunden. Das Einzige, was ich denken konnte, war, dass er am Leben ist. Am Leben. Mein Sohn ist am Leben. Ich kann mich mit ihm treffen.
»Wo ist er?«, fragte ich. »Wo ist er? Ich will ihn sehen!«
»Chrissy«, sagte
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