Ich darf nicht vergessen
sagst du. Aber er ist schon wieder weg, stattdessen ist Amanda da. Sie sitzt auf der Bettkante. Sie nimmt deine Hand. Ihre ist vollständig, unversehrt. Du bist erleichtert. Es war also nur ein Traum. Alles nur ein Traum. Und endlich kannst du schlafen.
D u wirst von einem Donnerschlag geweckt. Regen prasselt gegen die Fenster, aufs Dach. DrauÃen ist es grau und nass, aber es ist immer noch warm. Du siehst, dass du schon angezogen bist, sogar Schuhe hast du an. Wahrscheinlich hattest du Bereitschaft.
Die erste Zeit als Assistenzärztin, als du lernen musstest, aus dem Tiefschlaf aufzuspringen und sofort zu funktionieren. Keine Ãbergangszeit zwischen Koma und Höchstkonzentration. Dein Magen ist leer, doch als du nach unten gehst und den Kühlschrank aufmachst, ist er dunkel und leer, und ein säuerlicher Gestank entströmt ihm. In der Speisekammer eine angebrochene Schachtel Cornflakes. Rattenköttel auf den Regalen, angenagte Nudel- und Kräckerpackungen.
Ãber der Spüle die Uhr. Sie tickt noch. Acht Uhr fünfundvierzig. Die Sozialklinik macht um acht Uhr auf, du bist spät dran. Du schiebst dir eine Handvoll von den weichen, klebrigen Cornflakes in den Mund und läufst zur Tür. Du hast deine Autoschlüssel nicht, also musst du ein Taxi nehmen. Eilig gehst du in Richtung Fullerton Avenue, wo Tag und Nacht Taxis vorbeifahren.
Von dem warmen Regen bist du bereits bis auf die Haut durchnässt. Die ersten zwei Taxis sind besetzt, aber dann hast du Glück: Das dritte hält an. Zur New Hope Clinic, sagst du. Die Adresse?, fragt der Fahrer, aber du kannst dich nicht erinnern. Er gibt den Namen in ein kleines Gerät ein, das an seinem Armaturenbrett befestigt ist. Chicago Avenue, sagt er. Alles klar.
Er ist dunkelhäutig, attraktiv. Auf der Lehne des Beifahrersitzes ist eine palästinensische Flagge drapiert. Sein Handy klingelt, er gibt kurz ein paar gutturale Laute von sich, legt auf. Du streifst dir, so gut es geht, das Wasser ab und versuchst, dich zu entspannen. Chicago, die graue Lady. Dich stört das nicht.
Manchmal gefällt es dir, wenn die AuÃenwelt zu deiner inneren Realität passt, hast du einmal zu James gesagt, um ihm zu erklären, warum du Gewitter liebst. Wieder kracht es über dir, und rechts zuckt ein Blitz. Wahnsinn, sagt der Fahrer und lächelt, als sich eure Blicke im Rückspiegel begegnen.
Das Taxi hält vor einem niedrigen, grauen Gebäude. Sieben fünfundsiebzig, sagt der Mann. Du willst deine Handtasche nehmen. Du suchst den Rücksitz ab, fühlst in deinen Taschen nach, wirst schrecklich nervös. Der Mann wirkt eher besorgt als beunruhigt. Arbeiten Sie hier?, fragt er. Oder sind Sie eine Patientin? Du erklärst ihm, dass du Ãrztin bist, und der Mann sieht dich an, als hätte er nichts anderes erwartet. Vielleicht können Sie sich was leihen, sagt er. Ich warte.
Du rennst durch den Regen zum Eingang. Das Wartezimmer ist voll, die Stühle reichen nicht für die vielen Leute. Jean sitzt am Empfangstresen und nimmt gerade die Personalien einer Frau mit einem weinenden Kleinkind auf. Als sie dich sieht, wirkt sie verblüfft. Dr. White!, sagt sie. Was für eine angenehme Ãberraschung! Habe ich denn heute keinen Dienst?, fragst du. Dann fügst du hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten: Egal. Offenbar werde ich hier gebraucht. Ich bin in zehn Minuten so weit.
Du gehst in den hinteren Bereich und wunderst dich über all die fremden Gesichter. Ein mittelgroÃer, dunkelhäutiger Mann hält dich auf. Tut mir leid, sagt er, Zugang nur für Mitarbeiter. Auf seinem Namensschild steht DR . AZIZ . Kein Problem, sagst du. Ich bin Dr. Jennifer White. Offenbar ist im Dienstplan etwas durcheinandergeraten, aber es sieht so aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen.
Dr. White?, fragt er, doch da bist du schon am Waschbecken und wäschst dir die Hände. Du gehst zum Schrank, nimmst einen weiÃen Kittel heraus, ziehst ihn über und knöpfst ihn zu. Was haben Sie für mich?, fragst du. Der andere Arzt zögert, dann zuckt er die Achseln. Zimmer drei, Hautausschlag, könnte eine Gürtelrose sein. Vielleicht aber auch eine Reaktion auf Hautkontakt mit Gifteichenblättern. Die Krankenkarte hängt an der Tür.
Der Höflichkeit halber klopfst du an, dann betrittst du das Zimmer. Die Frau ist vielleicht dreiÃig, Afroamerikanerin, kräftig gebaut. Aber sie hält sich die linke Seite,
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