Ich darf Sie nicht lieben, Miss Jessica
sollten.“
Jessica zwang sich zu einem Lächeln. „Das ist völlig unnötig, Imogen“, erwiderte sie betont heiter. „Ich habe nur Kopfschmerzen. Ein wenig frische Luft, und die Sache ist wieder in Ordnung.“ Ihr Bruder und seine Frau hatten sich so viel Mühe gemacht, um ihr eine Saison in London zu ermöglichen, und sie brachte es nicht übers Herz zuzugeben, dass die sich ständig wiederholenden Morgenbesuche, Musikabende, Gesellschaften und Bälle sie zu langweilen begannen.
Um Imogen zu beruhigen, unternahm Jessica einen Spaziergang im Garten. Nachdem sie eine Weile über die gepflegten Kieswege geschlendert war, ließ sie sich auf einer Steinbank nieder und drehte gedankenverloren den Griff ihres Sonnenschirms zwischen den Fingern. Ich brauche irgendeine Art wirksamer Zerstreuung, beschied sie. Unbedingt .
Wie sonst sollte sie es anstellen, Lord Wyvern und sein verflixtes Desinteresse an ihr aus ihren Gedanken zu verbannen?
Der Zufall wollte es, dass Nicholas seiner Schwester genau die Art von Ablenkung zu bieten vermochte, die sie sich selbst verordnet hatte. Beim Frühstück am nächsten Morgen verkündete er, er habe sich entschlossen, das British Museum zu besuchen, um sich die Marmorstatuen anzusehen, die Lord Elgin aus Griechenland mitgebracht hatte und die seit Kurzem dort ausgestellt wurden.
Jessica, die bis dahin nie sonderlich viel für antike Funde übrig gehabt hatte, informierte ihren erstaunten Bruder, dass sie ihn auf seinem Ausflug begleiten wolle, und so stiegen die beiden Geschwister am frühen Nachmittag vor dem Eingang des imposanten Gebäudes, das die Ausstellung beherbergte, aus dem Landauer der Familie.
Nicholas, dem zwei Stunden mehr als ausreichend für einen Rundgang erschienen, hatte den Kutscher gerade angewiesen, sie um halb vier wieder abzuholen, als Jessica ihn unterbrach.
„Könnten wir nicht anschließend noch einen Bummel durch die Oxford Street machen, Nick?“, bat sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Ihr war eingefallen, dass Londons beliebteste Einkaufsstraße ganz in der Nähe lag. „Nur kurz, höchstens eine Stunde. Ich gelobe es hoch und heilig.“
Ihr Bruder zögerte. Matt hatte ihm das Versprechen abgenommen, dafür zu sorgen, dass Jessica nicht wieder in irgendein Fiasko geriet, doch ihr Anliegen schien ihm kein derartiges Risiko zu bergen. Also revidierte er seine Anordnung an Cartwright und befahl ihm, sich um Punkt fünf mit der Kutsche am St. Giles’ Circus einzufinden. Dann hakte er seine Schwester unter und führte sie zielstrebig zum Eingang von Montague House, um sich in die lange Schlange erwartungsfreudiger Besucher einzureihen.
Jessicas erste Reaktion, als sie die ausgestellten Statuen sah, war Unverständnis. Was für ein Aufhebens machten all diese Leute um ein paar alte Steinfiguren, denen Köpfe und Arme fehlten? Doch während sie ihrem Bruder folgte, der den Anblick eines jeden einzelnen Bruchstücks selig in sich aufzusaugen schien, wandelte sich ihre Haltung. Mehr und mehr ertappte sie sich dabei, wie ein tiefes Bedauern sie überkam, wenn sie daran dachte, welch grausame Entstellung die Zeit diesen einstmals so prächtigen Marmorbildnissen zugefügt hatte.
Als Nicholas sich schließlich zu ihr umwandte, um ihr zu sagen, dass sie nun gehen konnten, standen Jessica Tränen in den Augen. „Ist es nicht unendlich traurig zu sehen, wie vergänglich die Schönheit von Kunstwerken ist?“, fragte sie mit erstickter Stimme.
Nicholas’ Blick flog besorgt zu den umstehenden Besuchern. Du lieber Himmel – Jessica würde doch hoffentlich nicht wieder eine ihrer aufsehenerregenden Szenen machen? Entschlossen packte er seine Schwester beim Ellbogen und schob sie zum Ausgang. Je rascher er sie hier herausbrachte, je besser.
„Was in aller Welt sollte das denn nun wieder?“, fragte er unwillig, als sie das Gebäude verlassen hatten.
„Aber du musst es doch auch empfunden haben, Nicholas“, brachte Jessica protestierend hervor. „All diese Trümmer von Darstellungen, die einstmals beeindruckend und bedeutungsvoll waren! Ich finde, Lord Elgin hätte sie dort lassen sollen, wo sie ursprünglich hingehörten.“
„Stell dich nicht so dämlich an“, erwiderte ihr Bruder ungeduldig. „Wenn Seine Lordschaft sie nicht hierhergebracht hätte, wären sie längst zerstört. Es ist sein Verdienst, dass sie für die Nachwelt erhalten bleiben.“
Jessica ließ sich von seiner Argumentation nicht beirren. „Besser in der ursprünglichen
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