Ich durchschau dich!: Menschen lesen - Die besten Tricks des Ex-Agenten (German Edition)
waren das, die haben uns nach Venedig eingeladen. Und dann sind die Türken und die Griechen und die Araber gekommen. Ich habe sehr viele verschiedene Kulturen kennengelernt. Und Speisen. So ein Haus wie dieses ist quasi wie Dauerurlaub. Man ist ja überall gleichzeitig. Aber ich muss sagen, dass es mir in den letzten Jahren nicht mehr gefällt. Ständig wechseln die Mieter. Mit einigen kann ich mich kaum verständigen. Renoviert wird auch nichts mehr. Nein, die guten Zeiten sind vorbei. Aber ich werde nicht mehr
umziehen. Wenn ich hier rausgehe, dann nur liegend und mit den Füßen voraus. Noch Kaffee?«
»Nein danke.«
»Was ich damit sagen will: Sie sind auf mich angewiesen. Sie brauchen eine zuverlässige Person, der man so etwas nicht zutraut. Eine alte Frau, auf die niemand schaut. Ich bin Ihre Idealbesetzung, und deshalb werden Sie meine Bedenkzeit akzeptieren.«
Puff, das saß. Ich nickte anerkennend und ein klein bisschen verdutzt.
Da blinzelte mir die alte Dame zu. »So viel kann ich Ihnen heute schon verraten: Ihre Karten stehen nicht schlecht.«
»Frau Mühlthaler, das freut mich. Aber selbst wenn Sie sich dagegen entscheiden: Ich bin nie bei Ihnen gewesen.«
»Und wenn ich mich dafür entscheide?«
»Dann war ich erst recht nie da.«
Sie lachte auf. »Verstehe. Und was sage ich, wenn mich andere fragen, warum ich so oft Besuch habe?«
»Sie haben doch Familie in Rosenheim.«
»Das habe ich Ihnen nicht erzählt.«
»Wir lassen uns da was einfallen. Vielleicht bin ich Ihr Zivi?«, grinste ich sie an.
»So was brauch ich nicht …«, sie zögerte. »Obwohl. Vielleicht fühle ich mich jetzt doch auf einmal ein bisschen hilfsbedürftig. Die Wasser- und Saftflaschen sind schon sehr beschwerlich hochzutragen.«
»Ab morgen könnten Sie auf uns zählen«, lockte ich die alte Dame. »Ich ruf Sie um neun an, passt das?«
»Um neun nicht. Um fünf nach neun. Nach den Nachrichten.«
»In Ordnung«, sagte ich und begriff erst im Treppenhaus, dass sie damit das Radio gemeint hatte.
Schema F oder Schema Flex?
Schema F
Trotz ihres unkonventionellen Auftretens handelte Frau Mühlthaler strikt nach ihrem Schema F. Dass ich dies schnell erkannt hatte, erleichterte die Verhandlungen ungemein. Hätte ich Schema F unterbrochen, würde ich womöglich heute noch an dem Tisch mit der Wachstuchdecke sitzen. Einen Schema-F-ler unterbricht man nicht ungestraft. Er gerät sonst völlig aus seinem Konzept, und das kann sehr zeitintensiv werden.
Fragen Sie einen Schema-F-ler nicht, warum er etwas so macht, wie er es macht. Er wird es Ihnen nicht beantworten können. Womöglich versteht er die Frage gar nicht.
»Weil ich es immer so mache.«
Das muss Ihnen doch genügen. Tut es nicht? Dann wird der Schema-F-ler vielleicht etwas erfinden, warum es angeblich besser ist, etwas so und nicht anders zu machen. Das glaubt er vielleicht auch selbst. Im Grunde genommen interessiert ihn das aber nicht. Die Regel ist ganz einfach: Es wird so gemacht, wie es immer gemacht wird. Dafür gibt es genug gute Gründe. Bei Frau Mühlthaler: erst der Kaffee, dann zwei Kekse, vorher das Fenster schließen, dann das Gespräch. Und natürlich: eine Nacht drüber schlafen. Wie schon seit 50 Jahren. Das hatte sich bewährt, dabei blieb sie. Was nicht bedeutete, dass die alte Dame prinzipiell unflexibel wäre. Das Gegenteil hatte sie eindrucksvoll bewiesen. Ein Schema-F-Typ kann durchaus auch ein Risiko eingehen. Aber was er macht, die Aufgaben, die er erfüllt,
die Abläufe, die er bewältigt, das alles geschieht nach Schema F. Und zwar nur nach Schema F. Nicht nach Schema G oder H oder gar X.
Genau das bringt den Schema-Flex-Typ fast um den Verstand. Der bekommt nahezu Erstickungszustände, wenn er immer alles auf die gleiche Art und Weise machen soll. Er braucht Abwechslung, öfter mal was Neues in der Art, wie er seinen Alltag bewältigt. Nein, er möchte nicht jeden Tag zuerst eine Marmeladen- und dann eine Honigsemmel frühstücken. Er möchte vielleicht mal eine Käsebreze dazwischen. Undenkbar für den Schema-F-ler.
Was am Frühstückstisch noch mit Humor genommen werden kann, ist nicht mehr lustig, wenn es um die Eignung für und Erfüllung von komplexen Aufgaben geht. Besteht ein Team unglücklicherweise aus einem Gegensatzpaar, sind, wenn auch nicht Mord und Totschlag, so doch Missvergnügen und Frust an der Tagesordnung.
Schema F geht stets Schritt für Schritt vor. Erst A, dann B. Es ist ihm unmöglich,
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