Ich & Emma
Kätzchen wäre? “Komm her, Kleines. Komm mal hier rauf. Komm her, mein süßes Mädchen!”
“Tu das nicht”, sagt Emma und ich sehe ihre Augen, die alles wissen, obwohl sie zwei Jahre jünger als ich ist.
“Ich bin gleich zurück.” Ich versuche, nicht ängstlich zu wirken, während ich fieberhaft nachdenke. Habe ich etwas falsch gemacht? Ich war dran mit dem Frühstück, und ich habe die Eier genau so gemacht, wie er es mag. Er will mich in die Falle locken. Seine Stimme klingt, wie wenn man kurz vor dem Abendessen ein Huhn herlockt. Man jagt es nicht etwa, man bringt es dazu, zu einem zu kommen. Man ruft es und versucht dabei, nett zu klingen. Komm her, Hühnchen.
“Ich komme”, antworte ich.
Die Treppe ist auf einmal so steil, ich muss mich am Geländer festhalten, obwohl ich tausend Mal am Tag hinauf und hinunter renne, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.
“Wieso dauert das denn so lange, Mädchen.” Weil er bemüht ist, seine Stimme süßlich klingen zu lassen, ist das Wort
Mädchen
wie ein Wirbel in der Luft. Ich stelle mir vor, wie er mit Hühnerfutter in der einen Hand dasteht und darauf wartet, dass ich es aufpicke, damit er mich mit der anderen Hand packen kann.
“Nein”, schreit Emma vom Ende der Treppe herauf. “Carrie”, nein.”
Beim Klang ihrer Stimme will ich mich am liebsten übergeben.
Mama ist nicht hier, denke ich. Ich muss wohl tun, was er sagt.
Oben angekommen, schaue ich mich nach einem sicheren Ort um, an den ich flüchten kann, aber in diesem Haus gibt es keinen. Nur hinter der Couch, aber von der bin ich gerade sehr weit entfernt.
Ich spähe in das Zimmer von Richard und Mama und atme tief ein. Selbst von hier aus konnte ich es riechen. Mamas Parfüm kann den Gestank von Richards verschwitzen Klamotten nicht überdecken. Richard sitzt auf dem Bett, das früher meiner Großmutter gehört hat. Darauf liegt eine vergilbte Decke mit hübschem Blumenmuster. Ich male dieses Muster gerne mit den Fingern nach, wenn Mama vom Schlaf noch ganz weich ist und Emma und ich in ihr Bett schlüpfen, weil Richard nicht zu Hause ist.
“Komm her”, sagt er. Er sitzt vornüber gebeugt, die Ellbogen auf seinen Knien. Als ich auf Zehenspitzen das Zimmer betrete, richtet er sich auf, und ich kann sehen, dass sein Reißverschluss offen steht. Jetzt möchte ich mich wirklich übergeben.
“Ich sagte, komm her.” Aber meine Beine bewegen sich nicht. Sie sind steif wie diese Pusteblumen, deren Stängel man einfach nicht aus dem Boden reißen kann. Gerade als er es noch einmal sagt, kommt Emma, drängt mich aus dem Zimmer und schließt die Tür. Einfach so. Ich warte ein paar Sekunden, dann renne ich hinter die Couch. So ein Feigling bin ich. Ich lasse meine kleine Schwester für mich die Kohlen aus dem Feuer holen. Von oben ist kein Ton zu hören, aber ich weiß, dass es schlimm sein muss. Emma weint nie, wenn es besonders schlimm ist. Sie weint nur, wenn sie das Gefühl hat, damit etwas erreichen zu können. Jetzt kann sie nichts erreichen. Ich lege die Stirn auf meine Knie und warte darauf, dass sie wieder herunterkommt. Hinter die Couch gequetscht zupfe ich an dem gelben Streifen im Stoff und bete, dass sie in Ordnung ist. Warum ist sie noch nicht wieder nach unten gekommen? Ich warte. Ich warte noch etwas länger. Ich drücke die Absätze in den Linoleumboden und schiebe mich auf dem Hintern einen oder zwei Zentimeter nach hinten. Und noch ein Stück.
Aber Emma kommt sehr lange nicht aus dem Zimmer, und als sie dann doch kommt, sucht sie nicht nach mir wie sonst. Ich höre, wie sie mit leisen Schritten zu unserem Nest tappt, also schieße ich hinter der Couch hervor und eile hinter ihr her.
Richards Tür ist geschlossen, ich nehme zwei Stufen auf einmal. Sie sitzt auf der Bettkante und sieht nicht so aus, als ob sie eine Tracht Prügel bekommen hätte. Sondern eher, als ob sie von einem Gewitter überrascht worden wäre. Ihr Haar ist nicht mehr seidig und im Nacken ganz verfilzt, die Ponyfransen sind feucht. Ihr Gesicht ist geschwollen, als ob sie geweint hat, aber ich habe nichts gehört. Keine Ahnung, was geschehen ist.
Doch sie schweigt wie ein Grab, ich werde in nächster Zeit wohl kaum herausfinden, worüber Richard so wütend war.
Ich gehe zum Ventilator und stelle ihn an, weil ich hoffe, dass sie vielleicht in ihn hineinsprechen wird wie sonst, doch sie sitzt einfach nur auf dem Bett. Also nehme ich mir das Briefmarkenalbum vor, überblättere Rumänien und
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