Ich finde dich
den Ohren zu surren. Ich hätte auf meinem iPhone nachsehen können, brauchte dafür aber einen großen Bildschirm. »Ich muss etwas im Internet nachsehen.«
»Der Chef lässt hier keinen ins Internet. Ist alles geblockt.«
Ich bedankte mich und eilte nach draußen. Minor. Den Namen hatte ich im Zusammenhang mit der ganzen Sache schon gehört. Ich raste wie ein Irrer den Northern Boulevard entlang zum Cybercraft Internet Café. Dort arbeitete der gleiche Chiller wie gestern. Falls er mich erkannte, ließ er es sich nicht anmerken. Vier Terminals waren frei. Ich setzte mich an einen und gab die Adresse ein, in der die New Yorker Zeitungen und deren Archive verlinkt wurden. Wieder suchte ich nach dem 25. Mai vor sechs Jahren – einen Tag nachdem das Überwachungsfoto von Natalie entstanden war. Der Computer schien ewig zu brauchen, bis er ein Suchergebnis ausspuckte.
Komm schon, komm schon …
Dann erschien die Schlagzeile:
Bürgerrechtler niedergeschossen
Archer Minor in eigener Kanzlei exekutiert
Ich wollte laut »Heureka!« schreien, konnte mich aber gerade noch zurückhalten. Minor. Das konnte kein Zufall sein. Ich klickte auf den Artikel und las:
Archer Minor, Sohn des berüchtigten Mafia-Bosses Maxwell Minor, Strafverteidiger und Opferrechts-Aktivist, wurde gestern in seiner Kanzlei in einem Wolkenkratzer an der Park Avenue exekutiert. Offensichtlich kam er bei einem Anschlag um, den sein eigener Vater autorisiert hatte. »Der Minor-Sohn, der auf den Weg der Tugend zurückgefunden hatte«. So war Archer Minor bekannt geworden, der vor allem Opfer von Gewaltverbrechen vertrat. In den letzten Wochen hatte er sogar seinen eigenen Vater öffentlich angeprangert und versprochen, der Staatsanwaltschaft Beweise für die Vergehen seiner Familie vorzulegen.
Weitere Einzelheiten wurden im Artikel nicht genannt. Wieder rief ich die Suchmaschine auf und gab den Namen Archer Minor ein. In der Woche nach seiner Ermordung war jeden Tag mindestens ein Artikel erschienen. Ich überflog sie, immer auf der Suche nach einem Hinweis auf eine Verbindung zwischen Archer Minor und Natalie. Ein Artikel, der zwei Tage nach dem Mord veröffentlicht wurde, weckte meine Aufmerksamkeit.
Polizei sucht Zeugin für Minor-Mord
Zuverlässige Quellen aus New Yorker Polizeikreisen behaupten, es werde intensiv nach einer Frau gesucht, bei der es sich womöglich um eine Augenzeugin des Mordes an dem zum Helden gewordenen Gangstersohn Archer Minor handele. Auf Nachfrage stand das NYPD nicht für eine Stellungnahme zur Verfügung. »Wir verfolgen verschiedene Spuren«, sagte Polizeisprecher Anda Olsen. »Wir haben berechtigte Hoffnungen, bald einen Verdächtigen in Gewahrsam nehmen zu können.«
Es passte. Zumindest halbwegs.
Ich rief mir das Überwachungsfoto von Natalie in der Lobby eines Bürogebäudes ins Gedächtnis. Okay, was jetzt? Ich startete einen Versuch, die Einzelteile zusammenzusetzen: Aus irgendeinem Grund war Natalie an dem Abend in Minors Kanzlei gewesen. Sie hatte den Mord oder den Mörder beobachtet. Das wäre eine Erklärung für die Angst in ihrem Gesicht. Sie war geflohen und hatte gehofft, dass niemand etwas davon mitbekam, aber die Polizei hatte die Videos der Überwachungskameras überprüft und sie beim Durchqueren der Lobby entdeckt.
Es musste noch mehr dahinterstecken, offenbar hatte ich irgendetwas übersehen. Ich las weiter.
Auf die Frage nach dem Motiv für das Verbrechen antwortete Olsen: »Wir gehen davon aus, dass Archer Minor ermordet wurde, weil er das Richtige tun wollte.« Bürgermeister Bloomberg bezeichnete Archer Minor als Helden. »Ihm ist es gelungen, die vermeintlichen Zwänge und Abhängigkeiten zu überwinden, die mit seiner Herkunft und seinem Familiennamen einhergingen, um so zu einem großen New Yorker zu werden. Seine unermüdliche Arbeit sowohl für Opfer von Verbrechen als auch dafür, Gewalttäter vor Gericht zu stellen, wird unvergessen bleiben.«
Viele Leute fragen sich, warum Archer Minor, der kürzlich seinen Vater Maxwell Minor und dessen berüchtigtes Verbrechersyndikat MM anprangerte, keinen Polizeischutz genoss. »Darauf wurde auf seinen eigenen Wunsch verzichtet«, sagte Olsen. Minors Witwe hat laut einer Quelle aus ihrem Umfeld gesagt, ihr Mann hätte sein Leben lang daran gearbeitet, die Verbrechen seines Vaters wiedergutzumachen. »Archer wollte von Anfang an nur eine gute Ausbildung, um ein anständiges Leben zu führen«, hieß es, »aber ganz egal, wie schnell er auch
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