Ich finde dich
Ich wählte Shantas Nummer und wartete. Sie meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
»Ich hab’s begriffen«, sagte sie. »Du bist sauer auf mich.«
»Du hast der New Yorker Polizei die Nummer von meinem Einweg-Handy gegeben. Du hast ihnen geholfen, mich zu finden.«
»Schuldig. Aber das war nur zu deinem Besten. Die hätten auf dich schießen oder dich wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verhaften können.«
»Ich habe allerdings keinerlei Widerstand geleistet. Ich war auf der Flucht vor ein paar Durchgeknallten, die mich umbringen wollten.«
»Ich kenne Mulholland. Ein guter Mann. Ich wollte einfach sichergehen, dass nicht irgendein Hitzkopf auf dich schießt.«
»Wieso sollte er? Ich war nicht einmal ein richtiger Verdächtiger.«
»Das ist auch egal, Jake. Du brauchst mir nicht zu vertrauen. Ist schon okay. Aber wir müssen uns unterhalten.«
Ich machte den Motor aus. »Du sagtest, du hättest eine Verbindung zwischen Natalie Avery und Todd Sanderson gefunden.«
»Ja.«
»Was für eine?«
»Das erzähl ich dir, wenn wir uns unterhalten. Von Angesicht zu Angesicht.«
Ich überlegte.
»Hör zu, Jake, das FBI wollte dich festnehmen und ausgiebig verhören. Ich konnte sie überzeugen, dass es besser ist, wenn ich das für sie erledige.«
»Das FBI ?«
»Ja.«
»Was wollen die von mir?«
»Komm einfach her, Jake. Das ist in Ordnung, vertrau mir.«
»Klar.«
»Es läuft darauf hinaus, dass du dich mit mir oder mit dem FBI unterhältst.« Shanta seufzte. »Pass auf, wenn ich dir erzähle, worum es geht, versprichst du dann, dass du herkommst und mit mir redest?«
Ich überlegte kurz. »Ja.«
»Versprochen?«
»Ehrenwort. Also, worum geht’s?«
»Es geht um mehrere Banküberfälle, Jake.«
Mein neues regelübertretendes, am Rande der Illegalität lebendes Ich missachtete auf dem Rückweg nach Lanford, Massachusetts, diverse Geschwindigkeitsbegrenzungen. Dabei versuchte ich, die neu erhaltenen Informationen einzuordnen, fügte sie in meine Zeitleiste ein, prüfte verschiedene Theorien und Mutmaßungen, verwarf die meisten, fing wieder von vorne an. In mancher Hinsicht passte das alles ziemlich gut zusammen, aber einige dieser vermeintlichen Zusammenhänge kamen mir doch arg konstruiert vor.
Mir fehlte immer noch einiges, unter anderem die Antwort auf die große Frage: Wo war Natalie?
Vor fünfundzwanzig Jahren war Professor Aaron Kleiner zu seinem Fachbereichsvorsitzenden Malcolm Hume gegangen, weil er einen Studenten bei einem Plagiat (bzw. beim Kauf und der kompletten Übernahme) einer Semesterarbeit ertappt hatte. Mein späterer Mentor hatte ihn unmissverständlich aufgefordert, die Sache auf sich beruhen zu lassen – genauso, wie er es dann mir gegenüber bei dem Vorfall mit Professor Eban Trainor gemacht hatte.
Ich fragte mich, ob Archer Minor Aaron Kleiners Familie persönlich bedroht hatte oder ob es von MM angeheuerte Hilfskräfte waren. Eigentlich spielte das jedoch keine Rolle. Sie hatten Kleiner so sehr unter Druck gesetzt, dass der keine andere Möglichkeit sah, als zu verschwinden. Ich versuchte, mich in seine Situation zu versetzen. Vermutlich war Kleiner verängstigt, fühlte sich gefangen, in die Enge getrieben.
Wen hätte er in dieser Situation um Hilfe gebeten?
Der erste Gedanke war wieder: Malcolm Hume.
Und Jahre später, als Kleiners Tochter sich in der gleichen Situation befand: verängstigt, gefangen, in die Enge getrieben …?
Die ganze Geschichte war förmlich übersät mit den Fingerabdrücken meines Mentors. Ich musste wirklich dringend mit ihm reden. Also wählte ich noch einmal Malcolms Nummer in Florida, es ging aber wieder niemand ran.
Shanta Newlin wohnte in einem Backstein-Stadthaus, das meine Mutter als »echtes Schmuckstück« bezeichnet hätte. Mit überquellenden Blumenkästen in voller Blüte und halbrunden Fenstern. Alles war perfekt symmetrisch. Ich ging den gepflasterten Weg entlang und drückte die Klingel. Ich war überrascht, als ein kleines Mädchen die Tür öffnete.
»Wer bist du?«, fragte das kleine Mädchen.
»Ich bin Jake. Und wer bist du?«
Das Mädchen war etwa fünf oder sechs Jahre alt. Sie wollte gerade antworten, als Shanta mit gestresster Miene erschien. Sie hatte die Haare nach hinten gebunden, trotzdem fielen ihr ein paar Strähnen in die Augen. Auf ihrer Augenbraue hatte sich Schweiß gesammelt.
»Lass mich das machen, Mackenzie«, sagte Shanta zu dem Mädchen. »Was habe ich dir über das Türaufmachen, wenn kein
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