Ich finde dich
gewesen. Das müsste doch eigentlich irgendeine Reaktion in mir auslösen, oder?
Ich erinnerte mich an mein sechs Jahre altes Versprechen. Natalie hatte gesagt: »Versprich mir, dass du uns in Ruhe lässt.« Uns. Nicht ihn oder sie. Uns. Auf die Gefahr hin, kaltherzig zu klingen oder die Worte zu sehr auf die Goldwaage zu legen – aber ein »uns« gab es nicht mehr. Todd war tot. Und ich war der festen Überzeugung, dass das Versprechen damit, so es denn überhaupt noch galt, für null und nichtig erklärt werden musste, weil dieses »uns« nicht mehr existierte.
Ich fuhr den Computer hoch – ja, er war alt – und tippte Natalie Avery in die Suchmaschine. Eine Liste mit Links erschien. Ich fing an, sie durchzusehen, war aber schnell entmutigt. Auf der alten Website ihrer Galerie fand ich noch ein paar Gemälde von ihr. Aber in den letzten, tja, sechs Jahren war nichts Neues dazugekommen. Ich entdeckte ein paar Artikel über Vernissagen und Ähnliches, aber auch die waren alt. Ich klickte auf ein paar neuere Links, aber einer führte zu einer 79-jährigen Natalie Avery, die mit einem Mann namens Harrison verheiratet war. Die andere war 66 und mit einem Thomas verheiratet. Es gab auch noch einige der Links, die man für fast jeden Namen fand: Ahnenforschung, Ehemaligenseiten von Highschools, Colleges, Universitäten und so weiter.
Aber im Endeffekt fand ich nichts, was ich für relevant hielt.
Was war mit meiner Natalie geschehen?
Ich beschloss, Todd Sanderson zu googeln. Er war tatsächlich Arzt – genauer Chirurg. Beeindruckend. Er hatte eine eigene Praxis in Savannah, Georgia, und war dem dortigen Memorial University Medical Center angegliedert. Sein Spezialgebiet waren Schönheitsoperationen. Ich konnte nicht sagen, ob es dabei um ernste Dinge wie Gaumenspalten oder ob es um Titten ging. Ich wusste auch nicht, ob das irgendeine Rolle spielte. In sozialen Netzwerken war Dr. Sanderson nicht sehr aktiv. Er war weder bei Facebook noch bei LinkedIn oder Twitter angemeldet.
Ein paar Treffer verwiesen auf Todd Sanderson und seine Frau Delia in verschiedenen Funktionen bei einer Wohltätigkeitsorganisation namens Fresh Start , aber insgesamt war auch da nicht viel zu holen. Ich gab seinen und Natalies Namen zusammen ein. Null Komma nix. Ich lehnte mich zurück und überlegte. Dann versuchte ich es mit dem Namen des Sohnes Eric Sanderson. Er war noch jung, daher machte ich mir keine allzu großen Hoffnungen, nahm aber an, dass er eine Facebook-Seite hatte. Das war ein Ansatz. Eltern hatten häufiger keinen Facebook-Account, aber ich kannte kaum einen Studenten, der darauf verzichtete.
Ein paar Minuten später landete ich einen Volltreffer. Eric Sanderson, Savannah, Georgia.
Das Profilbild war, wie vielsagend, ein Foto von Eric und seinem Vater Todd. Beide präsentierten sich breit grinsend und im Kampf mit einem großen, schweren Fisch, den sie in die Kamera zu halten versuchten. Ein gemeinsamer Angeltrip von Vater und Sohn, dachte ich und verspürte den Schmerz des Mannes, der selber gerne Vater wäre. Im Hintergrund des Bildes ging die Sonne unter, so dass die Gesichter der beiden im Schatten lagen, trotzdem spürte ich die Zufriedenheit durch den Bildschirm hindurch. Ein seltsamer Gedanke zuckte durch meinen Kopf.
Todd Sanderson war ein guter Mensch gewesen.
Natürlich war es nur ein Foto, und natürlich wusste ich, in welchem Ausmaß Menschen gute Laune oder sogar ganze Lebensentwürfe vorspiegeln konnten, aber hier spürte ich wahre Güte.
Ich sah mir die anderen Fotos auf Erics Facebook-Seite an. Die meisten zeigten ihn und seine Freunde – hey, er war ein Teenager – in der Schule, bei Partys, bei Sportveranstaltungen. Sie kennen das. Warum ziehen auf Fotos heutzutage eigentlich alle einen Schmollmund oder machen irgendwelche Gesten mit den Händen? Was soll das? Eine alberne Frage, aber die Gedanken gehen oft ihre eigenen Wege.
Eines der Fotoalben auf der Facebook-Seite trug den schlichten Titel FAMILIE . Es umfasste einen langen Zeitraum. Auf den ersten Bildern war Eric noch ein Baby. Dann kam seine Schwester dazu. Eine Reise nach Disney World, weitere Angeltrips, Familienfeiern, die Konfirmation, Fußballspiele. Ich sah alle durch.
Nirgends hatte Todd lange Haare – nicht auf einem einzigen Foto. Außerdem war er immer ordentlich glattrasiert.
Was bedeutete das?
Keine Ahnung.
Ich klickte auf Erics Pinnwand oder wie auch immer man die Startseite nannte. Es gab Dutzende
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