Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
namenloser Schmerz. Er öffnet die Lippen. Presst sie zusammen. Ringt mit sich, bevor er die Worte hervorbringt. »James weiß nicht mal von unserem Vater.« Zum ersten Mal spricht er das Thema an, offenbart sich. »Ich wollte nicht, dass er es erfährt. Ich habe Geschichten für ihn erfunden. Ich wollte, dass er die Chance hat, normal zu sein.« Geheimnisse tropfen aus seinem Mund, und aus meinen Ohren tropft die Tinte dazu, befleckt meine Haut mit seinen Geschichten. »Ich will nicht, dass ihn jemand anfasst. Ich will nicht, dass ihm jemand schadet. Ich kann nicht – Gott, ich kann das nicht zulassen«, sagt er. Matt. Leise.
Ich durchsuche die Welt nach den richtigen Worten. Und habe nur ein großes Nichts auf der Zunge.
»Es ist nie genug«, flüstert er. »Ich kann nie genug für ihn tun. Er wacht nachts immer noch schreiend auf. Weint sich immer noch in den Schlaf. Sieht Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe.« Er blinzelt zigmal. »So viele Menschen, Juliette.«
Mir stockt der Atem.
»Tot.«
Ich berühre das Wort auf seinen Lippen, und er küsst meine Finger. Seine Augen sind Vollendung: offen, aufrichtig, demütig. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagt er, und dieses Geständnis kostet ihn gewiss mehr Überwindung, als ich jemals begreifen kann. Er weiß nicht mehr aus noch ein und versucht verzweifelt, nicht aufzugeben. » Sag mir, was ich tun soll .«
Ich höre unsere Herzen in der Stille pochen. Betrachte Adams geschwungene Lippen, die markanten Linien seines Gesichts, die Wimpern, um die ihn jedes Mädchen beneiden würde, die tiefen dunkelblauen Augen, in denen ich treiben kann. Und biete ihm die einzige Lösung an, die mir einfällt. »Vielleicht sollten wir Kenjis Plan wirklich erwägen.«
»Du vertraust ihm?« Adam schaut mich überrascht an.
»Ich glaube, er lügt nicht, was diesen Ort angeht.«
»Ich weiß nicht, ob es gut ist, sich darauf einzulassen.«
»Warum nicht …?«
Ein Laut, der nicht nach Lachen klingt. »Weil ich ihn vielleicht umbringe, bevor wir dort sind.«
Ein trauriges Lächeln tritt auf meine Lippen. »Wir haben keinen anderen Zufluchtsort, oder?«
Ein kurzes knappes Kopfschütteln.
Ich drücke seine Hand. »Dann müssen wir es versuchen.«
»Was zum Teufel macht ihr da drin?«, schreit Kenji draußen und hämmert an die Tür. »Scheiße, Mann, ich meine, nackt sein ist immer gut, aber jetzt ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt für einen Quickie. Bewegt euren Arsch hier raus, wenn ihr nicht in Kürze tot sein wollt. Wir müssen los.«
»Ich könnte ihn auch sofort umbringen«, schlägt Adam vor.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, nehme sein Gesicht in die Hände und küsse ihn. Seine Lippen sind 2 Kissen, so weich, so wunderbar. »Ich liebe dich.«
Er schaut auf meine Augen, meinen Mund, und seine Stimme ist rau, als er flüstert: »Wirklich?«
»Absolut.«
Als James aus der Schule kommt, sind wir schon startklar. Adam und ich haben das Wichtigste eingepackt: Essen, Kleidung, Geld. Adam schaut sich in dem Zimmer um, als könne er nicht fassen, dass er es nun wieder verlieren wird. Ich kann nur erahnen, wie viel Arbeit und Kraft er aufgewendet hat, um seinem kleinen Bruder ein Zuhause zu schaffen, und mir tut das Herz weh.
Sein Freund ist in ganz anderer Stimmung.
Trotz seiner Verletzungen ist Kenji munter und tatkräftig, aus Gründen, die ich nicht ermessen kann. Ich kann seine Entschlossenheit nur bewundern. Allerdings starrt er mich unentwegt an.
»Wie kommt es, dass du Adam berühren kannst?«, fragt er irgendwann.
»Weiß ich nicht.«
Er schnaubt. »Quatsch.«
Ich zucke die Achseln. Finde es überflüssig, ihm zu erklären, dass ich tatsächlich keine Ahnung habe.
»Woher wusstest du überhaupt, dass du ihn anfassen kannst? Durch irgendein perverses Experiment?«
Ich hoffe, dass ich nicht rot werde. »Wo ist dieser Ort, von dem du redest?«
»Warum wechselst du das Thema?« Ich will Kenji nicht anschauen, bin aber sicher, dass er grinst. »Vielleicht kannst du mich ja auch anfassen. Willst du’s nicht mal probieren?«
»Ich glaube kaum, dass du das möchtest.«
»Doch, ich denke schon.« Ich höre, dass er grinst.
»Und ich denke, dass du sie in Ruhe lassen solltest. Sonst kannst du die Kugel im Bein gerne wiederhaben«, sagt Adam.
»Entschuldige, aber darf ein einsamer Kerl nicht mal ein bisschen rumbaggern, Kent? Vielleicht hab ich ja wirklich Interesse an ihr. Du könntest dich doch da raushalten und sie für sich selbst
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