Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
davon abhält, den Verstand zu verlieren.«
42
»Wir sind da, und es ist noch dunkel. So viel können wir nicht falsch gemacht haben.«
Kenji schaltet den Motor aus. Wir befinden uns in einer Art riesigen Tiefgarage. Im einen Moment waren wir noch unterwegs, im nächsten in einem Graben verschwunden. Dieser Ort ist mit Sicherheit schwer zu entdecken, vor allem im Dunkeln. Kenji hat also die Wahrheit gesagt über das Versteck.
Seit einigen Minuten fällt es mir schwer, Adam wach zu halten. Erschöpfung, Blutverlust, Hunger, Schmerzen drohen ihn zu überwältigen. Ich bin so hilflos.
»Adam muss sofort auf die Krankenstation«, sagt Kenji.
»So was gibt es hier?« Mein Herz macht Luftsprünge.
Kenji grinst. »Hier gibt’s alles. Du wirst Augen machen.« Er drückt auf einen Knopf, und das Innenlicht geht an. Kenji steigt aus. »Wartet hier – ich hol jemanden mit einer Trage.«
»Und was wird aus James?«
»Oh.« Kenji verzieht den Mund. »Er … äm … wird noch ein Weilchen schlafen.«
»Was soll das heißen?«
Kenji räuspert sich. Einmal. Zweimal. Streicht sich das Hemd glatt. »Ich, äm, habe ihm … möglicherweise was gegeben, um ihm die Reise zu erleichtern.«
»Du hast einem Zehnjährigen ein Schlafmittel gegeben?« Ich würde Kenji am liebsten erwürgen.
»Findest du, er hätte das hier alles miterleben sollen?«
»Adam wird dich umbringen.«
Kenji wirft einen Blick auf Adam. »Na ja, ich kann wohl froh sein, dass er das heute nicht mehr schafft.« Er zögert. Streicht James übers Haar und lächelt. »Der Junge ist ein Engel. Morgen früh geht’s ihm wieder gut.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass du –«
»Hey, hey –« Kenji hebt die Hände. »Vertrau mir. Er wird sich pudelwohl fühlen. Ich wollte nur verhindern, dass er noch mehr Traumata abkriegt.« Kenji zuckt die Achseln. »Und Adam wird mir vielleicht sogar beipflichten.«
»Ich werd dich umbringen«, murmelt Adam matt.
Kenji lacht. »Halt die Ohren steif, Bruder, sonst kann ich dir das nicht glauben.«
Er verschwindet.
Ich versuche Adam weiterhin wach zu halten. Sage ihm, dass Hilfe naht. Küsse seine Stirn. Betrachte jede Linie, jede Rundung, jede Verletzung in seinem Gesicht. Die Spannung weicht aus seinen Zügen, und er atmet ein wenig leichter. Ich küsse seine Oberlippe, seine Unterlippe. Seine Wangen. Seine Nase. Sein Kinn.
Dann geht alles ganz schnell.
Vier Leute kommen auf den Wagen zugerannt. Zwei Männer, zwei Frauen. »Wo ist er?«, fragt die eine Frau und schaut sich nervös um. Ich weiß nicht, ob sie sehen können, dass ich sie durchs Fenster anstarre.
Kenji öffnet die Autotür. Er sieht anders aus. Wirkt ernster und kraftvoller. Größer und entschlossener. Hier scheint er eine Autoritätsperson zu sein. Und diese Leute kennen ihn.
Adam wird auf die Trage gelegt und sofort untersucht. Alle reden durcheinander. Gebrochene Rippen. Blutverlust. Atemwege, Lungenkapazität und Was ist mit seinen Handgelenken passiert ? Jemand fühlt den Puls, Seit wann verliert er Blut ? Die vier Helfer tragen seltsame Kleidung.
Weiße Anzüge mit grauen Streifen an der Seite. Ich frage mich, ob das hier die Uniform eines Sanitäters ist.
Sie tragen Adam weg.
»Halt –« Ich springe aus dem Auto. »Warten Sie! Ich will mitkommen –«
»Das geht nicht.« Kenji hält mich fest. »Du kannst nicht dabei sein bei dem, was sie jetzt tun müssen.« Seine Stimme ist sanft.
»Was soll das heißen? Was müssen sie tun?« Die Welt verschwimmt vor meinen Augen, graue Schatten flackern, ich sehe abgehackte Bewegungen. Begreife plötzlich gar nichts mehr. Mein Kopf ist ein Stück Asphalt, ich werde totgetrampelt. Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich weiß nicht, wer Kenji ist. Kenji war Adams Freund. Adam kennt ihn. Adam. Mein Adam. Adam, der weggeschleppt wird, und ich kann nicht bei ihm sein, und ich will bei ihm sein, aber man verbietet es mir, und ich weiß nicht, warum –
»Sie werden ihm helfen – Juliette –, du musst dich jetzt unbedingt konzentrieren. Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen. Ich weiß, dieser Tag war der reinste Irrsinn – aber du musst jetzt unbedingt die Ruhe bewahren.« Kenjis Stimme. So ruhig. Plötzlich so klar und entschieden.
»Wer bist du …?« Ich werde panisch. Würde am liebsten mit James davonlaufen. Aber das geht nicht. Kenji hat irgendwas mit James gemacht, und ich weiß nicht mal, wie ich ihn wachkriegen kann. Möchte mir am liebsten die Nägel aus den Fingern reißen. » Wer bist du
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