Ich gegen Osborne
Richtung Kamera machte. Ich dachte, dass diese Fotos eines Tages in einer Mülldeponie landen und wir alle in Pflegeheimen enden würden, wo keiner von uns mehr cool wäre, obwohl auch Pflegeheime Tanzabende veranstalteten (das hörte nie auf). Als die drei auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, sagte die andere Schnepfe: »Mal sehen…« Sie reckte den Hals auf der Suche nach anderen Motiven, die es wert waren, ins Jahrbuch aufgenommen zu werden. »Ich schätze, wir könnten ein Gruppenfoto des ganzen Kurses machen.« Als die Fotografin ihre Kamera hob, dachte ich kurz daran, den Kopf auf mein Pult zu legen, setzte aber stattdessen das glückstrahlendste Lächeln auf, das ich je gelächelt hatte, damit die zukünftigen Kinder meiner Mitschüler später fragen würden: »Wer ist dieser gutgekleidete Junge, und warum war er so glücklich?«
Die Schnepfen gingen wieder, und ich machte mir Gedanken über meine Beliebtheit. Eben noch war ich ein Typ, der es nicht einmal wert war, dass man ein Stückchen Kamerafilm an ihn verschwendete, im nächsten Moment würden mehr als 2000 Schüler der Osborne High meinen Namen auf ihren mit Bläschen bedeckten Lippen tragen.
»Hey, Dannon, wie ist es so, wenn man bekannt und beliebt ist?«
»Du bist doch bekannt und beliebt. Warum fragst du mich ?«
[295] »Danke, aber das war nicht nötig.«
»Nun mach mal ’n Punkt«, sagte Amanda. »Jeder kennt James Weinbach.«
»Vielleicht als den größten Deppen der Schule«, sagte ich.
» Nein. Jeder kennt dich. Und jeder mag dich auch.« Solche Sprüche hatte ich schon einmal gehört, weigerte mich aber, sie zu glauben.
»Stimmt«, sagte Dannon. »Von ein paar Leuten in deinem Kurs Kreatives Schreiben abgesehen.«
»Das ist wirklich nett von euch beiden, aber nach der Szene mit den beiden Fotografinnen eben könnt ihr eure Popularität nicht leugnen.«
»Tja, also, das hat auch seine Schattenseiten«, sagte Dannon. »Die Leute halten einen automatisch für ein Arschloch. Ich zum Beispiel bin ziemlich schüchtern, und manchmal, wenn ich mich schüchtern verhalte, halten mich die Leute für hochnäsig.«
»Stimmt«, sagte Amanda. »Man könnte meinen, sie wollten, dass man sich hochnäsig benimmt, und wenn man nur die kleinste Kleinigkeit falsch macht, wenn man beispielsweise auf dem Flur nicht hallo sagt oder sowas, schreiben sie einen als Arschloch ab.«
»Die Hälfte der Zeit laufe ich mit Schuldgefühlen rum«, sagte Dannon.
»Du sollst wissen, dass ich dich bewundere. Hoffentlich bekommst du, was du dir vom Leben wünschst, und ich wünsche dir viel Glück in Deutschland.«
Er lächelte. »Ich bewundere dich auch, aber was soll das jetzt? Willst du etwa abhauen?«
»Nein. Dasselbe gilt für dich, Amanda.«
[296] »Danke.«
»Ihr könnt wohl nichts dafür, dass ihr beliebt seid. Ihr seid liebenswerte Menschen.«
Beide lachten und bedankten sich, und ich wandte mich ab, als mir klar wurde, wie seltsam ich mich angehört haben musste. Ich sah auf die Uhr. Es blieben noch vier Minuten. Ich musste etwas mit den Händen machen, sonst würde ich die Nerven verlieren, da war ich mir sicher. Ich hatte eine Theorie, warum Menschen tranken oder Drogen nahmen: Sie wussten nicht, wohin mit ihren Händen. Ich nahm meinen Füller und schlug das Deutschlehrbuch auf, konnte aber die Hausaufgaben nicht machen, weil ich mich nicht konzentrieren konnte. Ich schlug eine x-beliebige Seite auf und schrieb für einen zukünftigen Schüler: »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll.«
Ich klappte das Buch zu, spielte mit dem Stift herum und ließ meine Uhr nicht aus den Augen. Hinter mir redeten alle weiter, doch ihre Stimmen schienen schwächer zu werden, während mein Herz schneller schlug.
Ich fühlte mich so hundemüde. Ich fühlte mich permanent hundemüde. So ging es mir, seit ich auf die Highschool ging. Mir fehlte jede Energie. Früher hatte ich sogar überschüssige Energie gehabt, die ich für verrückte Aktionen benutzte. Beispielsweise nahm ich meine Videokamera mit in die Schule und fragte die Lehrer, ob ich sie filmen durfte, während sie mich beschimpften. Die Kamera hatte ich seit Jahren nicht mehr angefasst. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, ging ich oft sofort ins Bett und schlief manchmal bis zum Abendessen. Dann wieder lag ich einfach nur da und starrte meinen Bettvorleger an.
[297] Nach diesem Kurs hätte ich einfach die Schule verlassen können. Falls mich der Wachmann am Eingang aufhielt, hätte ich ihm
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