Ich gestehe
denn der Liebe Gastons war ich sicher und fürchtete Brigit nicht, wie ich etwa eine andere, elegante Frau fürchten würde, die Gastons Weg vielleicht einmal kreuzen könnte.
»Du magst ihn nicht?« bohrte Brigit weiter, indem sie die Basttasche wieder einpackte.
»Nein!«
»Trotzdem er dir so nett die Hand geküßt hat?«
»Eine dumme Formsache! Eine Höflichkeit, die außerdem noch falsch ist! Wirkliche Kavaliere küssen nur einer verheirateten Frau die Hand.«
Brigit zuckte mit den Schultern. »Ich finde ihn nett«, sagte sie. »Kann man ihn nicht mal treffen? So ganz zufällig, Gisèle?«
»Brigit!« Ich erhob mich. »Du hast unmögliche und wenig anständige Gedanken. Wenn ich das Papa schreibe …«
»Papa hat verstaubte Ideen!«
»Erlaube mal! Wer hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt? Woher hast du eigentlich deine modernen Weisheiten? Liest du zuviel Bücher vom Montmartre?« Ich faßte sie am Arm und schob sie aus dem Zimmer. Gaston ist noch in Zimmer 67, dachte ich dabei. Ich werde sie durch den Garten aus der Klinik führen, dann begegnen wir ihm nicht, wenn er zurückkehrt. »Komm«, sagte ich. »Der Professor ist streng! Ich bringe dich hinaus.«
Mit schmollend verzogenen Lippen folgte sie mir durch die Glastür ins Freie. Wir gingen über die Rasenflächen zum Seitentor, vorbei an der Leichenhalle, vor der gerade der Wagen eines Sarggeschäftes hielt. Brigit sah zur Seite und schauderte zusammen.
»Ja«, sagte ich, um sie abzuschrecken. »Das ist die andere Seite, Brigit. Es kann vorkommen, daß du auf einem Flur einer zugedeckten Bahre begegnest, die dann dort abgestellt wird.« Ich blieb stehen und zeigte auf die Gebäudeflügel der Klinik, die jetzt vor uns lagen. »Dort, das große Haus, ist die Geburtsklinik. Und dort, der weiße Bau mit den breiten Fenstern, ist die chirurgische Abteilung. Das Haus des Lebens – aber auch das Haus des vielfachen Todes!«
»Und wo arbeitet Dr. Ralbais?«
»Im Haus des Todes!« sagte ich hart.
»Wie aufregend.« Brigit drückte fest meine Hand. »Wie wahnsinnig aufregend.«
Ich sah ihr nach, wie sie schnell die Straße hinablief. Die blonden Locken auf ihrem Kopf flatterten. Ein bunter, schöner, schillernder Schmetterling, jung, sorglos, die Welt erobernd. »Wie aufregend!« hatte sie gesagt. Es waren die Gedanken der Jugend.
Jugend? Ich sah auf die Spitzen meiner weißen Sommerschuhe. Gehörte ich nicht mehr zur Jugend? War ich denn eine so alte Frau? 27 Jahre? Ist das schon alt? Mein Gott, wie würde es dann mit 37 sein oder mit 47 oder gar 57? Man ist mit 27 Jahren doch ein junges Mädchen, man steht doch in der Blüte des Lebens, man ist doch der Frühling, voll entfalteter, blühender Frühling. Trotz Doktortitel und Diplom, weißem Kittel und Membranstethoskop in der Manteltasche. Man ist mit 27 Jahren noch nicht alt; auch wenn Brigit mit 18 Jahren jünger ist, schäumender, gärender. Aber eine Frau von 27 Jahren liebt anders als ein dummes, kleines Mädchen von 18 Jahren. Ihre Liebe ist reifer, voller, hingebender, fordernder und schenkender. Sie ist wie ein Vulkan, der ausbricht und mit glühender Asche alles niederbrennt, Zeit, Ort, Gedanken und Vernunft. Nicht wie die Liebe eines Mädchens, die erst erweckt wird wie eine schlafende Blume und langsam erblüht, noch trunken vom langen Schlaf und sich nicht zurechtfindend in der plötzlichen, starken Sonne des Lebens.
Nein, mir war um Gaston nicht bang. Vor allem nicht wegen Brigit.
Gedankenvoll ging ich den Weg durch den Garten zurück und betrat wieder die chirurgische Klinik. Gaston kam mir auf dem unteren Gang entgegen. Sein Gesicht war ernst.
»In einer Stunde, Gisèle«, sagte er leise. »Sie hat sich damit abgefunden. Es war ein schweres Stück Arbeit.«
»Das glaube ich dir«, antwortete ich leise.
»Ich habe dich gesucht. Warst du im Garten?«
»Ich hatte Besuch und brachte ihn auf die Straße.«
»Einen Mann?« fragte er ernst. Er sah mich von der Seite an. »Vielleicht Fioret?«
»Aber Gaston!« Ich lachte ihn an, glücklich, weil er so kritisch war. »Eifersüchtig, mein Lieber?«
»Nicht direkt! Aber ich möchte wissen, wer – falls es der Fall ist – mit mir noch an der GmbH beteiligt ist.«
»Du bist ein altes, widerliches Ekel!« sagte ich wütend und ließ ihn stehen. Ich ging auf mein Zimmer und wartete dort, bis mich eine der Schwestern zum OP holen würde.
Es dauerte nicht lange, und Gaston kam ins Zimmer. Er setzte sich wortlos auf die Ecke meines Tisches
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