Ich glaube, der Fliesenleger ist tot!
Erinnerst du dich an das Bergwerksunglück in Chile im letzten August?«
»Ja, klar«, sagt Sarah.
Das Grubenunglück hatte wochenlang sämtliche Medien beherrscht: Dreiunddreißig Bergleute waren in der Kupfer- und Goldmine San José in Chile verschüttet worden und saßen in siebenhundert Meter Tiefe fest. Es musste ein Rettungsschacht gebohrt werden, der breit genug war, um eine Rettungskapsel zu den Bergleuten hinabzulassen, in der sie nacheinander ans Tageslicht befördert werden konnten. Zuerst hieß es, die nötigen Bohrungen würden vier Monate in Anspruch nehmen: Die Männer müssten darauf gefasst sein, bis Weihnachten unter Tage überleben zu müssen. Doch dann ging alles viel schneller. Bereits am 13. Oktober wurden alle Bergleute lebend geborgen.
Es tauchte das Gerücht auf, als voraussichtlicher Ret tungstermin sei den Arbeitern ganz bewusst ein übertrie ben pessimistisch gewählter Zeitpunkt verkündet worden. So konnten die Bergleute vom Rettungsteam regelmäßig mit der guten Nachricht versorgt werden, dass ihre Gefangenschaft wohl doch nicht ganz so lange dauern werde wie zuerst angenommen – angeblich ein psychologischer Trick, um die Stimmung unter den Männern zu stabilisieren: Wer anfangs vom Allerschlimmsten ausgeht, der hält jedes Ergebnis, das auch nur ein bisschen weniger schlimm ausfällt, für einen Grund, sich zu freuen.
»Immer, wenn irgendwo etwas gebaut wird, versprecht ihr Baumenschen, das wäre ganz bestimmt spätestens dann und dann fertig«, sage ich zu Sarah. »Ist es aber nie. Von meinem gesamten Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis weiß ich: Egal, ob es sich um den Ausbau eines Dachbodens, den Anbau eines Wintergartens oder den Umbau eines ganzen Hauses handelt – immer passiert irgendwann irgendetwas angeblich völlig Unvorhergesehenes, immer braucht alles viel, viel länger, als man uns Auftraggebern am Anfang verspricht. Und dann wundert ihr euch, wenn wir Bauherren irgendwann die Nerven verlieren. Warum macht ihr es nicht wie die Psychologen im Rettungsteam in Chile? Viel schlauer wäre es doch, wenn ihr am Anfang traurig gucken und sagen würdet: ›Also, das sage ich Ihnen aber gleich, bis das neue Bad fertig ist, das dauert mindestens ein Vierteljahr, vielleicht sogar sechs Monate.‹ Und wenn wir dann nur zehn Wochen lang nicht duschen können, sind wir dankbar und glücklich, und alle sind zufrieden. Oder glaubt ihr etwa selbst an eure Terminpläne?«
»Muss ich mal drüber nachdenken«, sagt Sarah.
Am nächsten Morgen fahre ich zum Haus, um zu gucken, ob die Dogge sich tatsächlich vom Acker gemacht hat. Ich vergesse mein Anliegen sofort, als ich ankomme. Auf der Straße stehen ein riesiger Kranwagen und zwei Transporter. Im Erdgeschoss des Hauses sind schon fast alle Fenster eingesetzt. Die Wirkung ist gewaltig: Plötzlich sieht das Haus aus wie ein Haus, nicht mehr wie eine Baustelle. Plötzlich kann ich mir vorstellen, dort zu wohnen, hinter diesen riesigen, schönen Fenstern. Meine eben noch mittelmäßige Laune kippt schlagartig ins Überschwängliche.
»Wahnsinn! Das ist ja großartig!«, rufe ich dem Mann entgegen, den ich für den Oberfenstereinbauer halte. »Ich dachte, das geht bei dem kalten Wetter nicht, dass Sie die Fenster einsetzten – wegen der Abdichtung.«
»Ach«, sagt der Oberfenstereinbauer, »das ist mindestens hundert Jahre her, dass man bei so einem Wetter keine Fenster einbauen konnte. Seitdem hat’s dann doch ein paar technische Fortschritte gegeben. Inzwischen geht das bis minus zwölf Grad.«
Ich denke: Wahrscheinlich hat der Fensterchef Herr Schön vorsorglich behauptet, bei diesem Wetter könne er unsere Fenster nicht einbauen – um schon mal eine Ausrede parat zu haben, falls er diese oder nächste Woche woanders etwas Dringenderes zu tun gehabt hätte.
Zwei Morgen später, an einem Donnerstag, simse ich an meinen Mann: »Ich bin Haustürschlüsselbesitzerin!«
Der Oberfenstereinbauer hat mir soeben die Schlüssel für die provisorischen Bautürschlösser überreicht. Erst wenn das Haus ganz fertig ist, werden die endgültigen Zylinder für die Sicherheitsschlösser montiert. Alle Fenster und die Tür zum Wirtschaftsraum sind eingebaut, nur die Haustür fehlt noch. Sie soll nachmittags eingesetzt werden. Stolz betrachte ich den Schlüssel in meiner Hand. Ich fühle mich das erste Mal wie eine richtige Hausbesitzerin. Ich beschließe, sofort ein paar Schlüssel nachmachen zu lassen. Von nun an werden die Dogge und
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