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Ich glaube, der Fliesenleger ist tot!

Ich glaube, der Fliesenleger ist tot!

Titel: Ich glaube, der Fliesenleger ist tot! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Karnick
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Lütjen, der sympathische Elektriker, sagt, dass in der Ecke, in der die Litfaßsäule steht, gar nichts stehen darf, weil Vattenfall aus Sicherheitsgründen ein Meter zwanzig Rückenfreiheit vor dem Stromanschluss vorschreibt: »Wenn die nicht eingehalten werden, dann stellen die Ihnen den Strom gar nicht erst an, das habe ich dem Herrn Tiedemann aber auch schon ganz am Anfang gesagt.«
    Mein Mann schreibt Herrn Tiedemann eine Mail und bestellt ihn für Donnerstagfrüh auf die Baustelle.
    Mittwochnachmittag ruft mich die Redakteurin an, für die ich den Artikel schreiben musste. Sie sagt, dass der Text nicht gut geworden sei, ich müsse ihn noch einmal umschreiben. Das passiert mir nicht oft. Aber sie hat völlig recht, denke ich. Ich bringe zurzeit nur noch halbe Sachen zustande. Und das, obwohl ich, seit der Hausbau begonnen hat, deutlich weniger Aufträge annehme als früher: Wenn ich die Minuten und Stunden zusammenrechne, die ich über die Woche verteilt auf Hausbauangelegenheiten verwende, dann komme ich sicher auf mindestens einen Arbeitstag pro Woche, macht ungefähr vier Arbeitstage pro Monat. Zeit, die mir fehlt, um Geld zu verdienen. Andererseits: Immer noch besser, einen Haufen Geld zu verlieren als die Nerven. Gut, dass ich meine Arbeitszeiten und -belastung selbst regulieren kann, ansonsten wäre ich sicher längst zusammengeklappt.
    Auf dem Heimweg vom Büro treffe ich mich mit meinem Mann im Haus, der Kessel steht jetzt nicht mehr in der Ecke, sondern in der Mitte des Technikraumes. Wir fahren nach Hause, wo unsere Tochter uns mit den Worten empfängt: »Wann soll Feline morgen bei uns sein, Papa? Wann fahren wir los?«
    »Feline? Wohin soll die mit uns fahren?«, fragt mein Mann.
    »Zu deiner Arbeit, morgen ist doch Girls’ Day, und Feline und ich dürfen mit zu dir, hast du gesagt«, sagt unsere Tochter.
    »Oh, Mist«, sagt mein Mann. »Das habe ich total vergessen.«
    »Ich auch«, sage ich.
    Girls’ Day, das ist dieser Berufserkundungstag, der immer im April stattfindet und den ich jedes Jahr aufs Neue verfluche: Am Girls’ Day, so die Ursprungsidee, sollen Mädchen zwischen zehn und fünfzehn Jahren einen Arbeitstag lang in einen typischen Männerberuf hineinschnuppern. Dann durften irgendwann auch die Jungen mitmachen und einen typischen Frauenberuf erkunden. Wer allerdings einen Platz in einem wirklich interessanten Betrieb mit gutem Betreuungsprogramm ergattern will, muss Eltern haben, die ihn daran erinnern, sich schon Monate vor dem Girls’ Day darum zu bewerben. Die meisten Eltern, so auch wir, vergessen das. Diese Eltern müssen ihr Kind dann selbst mit zur Arbeit nehmen – oft zusammen mit einem Freund oder einer Freun din, denn mit Freund oder Freundin dabei ist es nicht ganz so langweilig, bei Papa oder Mama im Laden oder Büro herumzusitzen, und außerdem kann man sein Kind dann vielleicht nächstes Jahr den anderen Eltern aufs Auge drücken. Die Kinder könnten statt zum Girls’ Day, der in Wirklichkeit Parents’ Day heißen müsste, auch einfach zur Schule gehen. Das will aber kein normales Kind.
    »Ich habe euch nicht angemeldet«, sagt mein Mann mit fester Stimme, von der er vermutlich hofft, dass sie jeden Protest im Keim ersticken wird. »Du musst morgen zur Schule. Dann eben nächstes Jahr.«
    Die Hoffnung meines Mannes wird enttäuscht. Unsere Tochter fängt umgehend an, Rotz und Wasser zu heulen. Ich beschließe, ein bisschen mitzuheulen. Ich vergehe fast vor schlechtem Gewissen, vor Mitleid mit meiner Tochter – der armen, bedauernswerten Hausbauwaise. Ich bin nicht nur noch eine halbe Journalistin, ich bin auch höchstens noch eine halbe Mutter. Und das alles wegen dieses bescheuerten Scheißhauses.
    Zwei heulende Frauen, das erträgt kein Mann länger als zehn Sekunden. Der Mann nimmt das Telefon, verzieht sich und kehrt zwanzig Minuten später mit der Nachricht zurück, unsere Tochter könne doch mitkommen, aber nur allein, ohne ihre Freundin. Unsere Tochter und ich schniefen noch ein wenig.
    »Hey«, sagt mein Mann. »Bald haben wir’s geschafft. Aber du weißt«, sagt er dann zu unserer Tochter, »dass du morgen ganz, ganz früh aufstehen musst? Ich muss vor der Arbeit noch zur Baustelle, mit Herrn Tiedemann sprechen wegen des Wasserspeichers.«
    Mein Mann, unsere Tochter und Herr Tiedemann begutachten morgens um sieben Uhr dreißig gemeinsam den Litfaßsäulenstandort in der Mitte des Technikraumes. Herr Tiedemann befindet, der Platz sei nicht ideal, aber

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