Ich habe abgeschworen
sechs Jahrgänge, es gab jeweils eine Klasse pro Jahrgang mit rund 30 Schülerinnen. Zweimal die Woche hatten wir eine Stunde Koranunterricht, also stupides Auswendiglernen fremder arabischer Laute durch Nachsprechen. Ebenso stupide waren auch die ewigen Lobeshymnen unserer Lehrerinnen und Lehrer auf den Schah. Der Geburtstag des Schahs wurde jedes Jahr feierlich begangen, mit einer großen Veranstaltung im dörflichen Sportstadion. Als ich in der dritten Klasse war, habe ich auf dieser Feier ein Gedicht vorgetragen, vor rund 400 Personen. Es ging um eine Mutter, die ihren Sohn liebt. Der hatte eine Geliebte, die ihm sagte, du musst deine Mutter töten. Da ging er hin und stieß seiner Mutter ein Messer in die Brust. Doch seine Mutter sagte ihm noch im Sterben, dass sie ihn liebe, egal was er getan habe, denn er sei ihr Sohn. Es war ein sehr pathetisches Gedicht, und ich habe es mit all meinem kindlichen Pathos vorgetragen. Es war meine erste Rede vor Publikum, und mir gefiel, wie alle mir zuhörten. Als das Publikum nach meinem Vortrag klatschte, freute ich mich sehr und war stolz auf mich. Dieser Stolz steigerte sich noch, als ich am nächsten Tag in der Tageszeitung ein Foto von mir sah. Dass ich mit dem Gedicht einem Sohnes- und Männerkult gehuldigt hatte, der Frauen Stolz nur in der Rolle als Mutter von Söhnen gewährte, machte ich mir nicht bewusst, zu schön war der Erfolg.
Die Schule machte mir zwar Spaß, aber die Pädagogik bestand aus Pauken, Prüfen und Strafen. Eine meiner Cousinen, ein Jahr älter als ich, war sehr schlecht in der Schule. Eines Tages forderte mich eine Lehrerin auf, diese Cousine mit einem Stock zu schlagen, da sie eine Aufgabe nicht lösen konnte. Die Lehrerin sagte, ich müsse meine Cousine schlagen, damit diese lerne zu lernen. Ich schüttelte den Kopf und war wie erstarrt. »Das musst du machen«, sagte die Lehrerin drohend. Ich verstehe bis heute nicht, was sie damit bezweckte, aber ich weigerte mich und sagte leise: »Das mache ich nicht. Sie ist größer als ich, und ich liebe sie.« Dann fing ich an zu weinen, denn es war entsetzlich, einer Erwachsenen zu widersprechen, es war absolut böse. Die Lehrerin schaute auch ganz empört, damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Schließlich aber ließ sie mich gehen, ich weiß nicht mehr, ob sie meine Cousine dann selbst schlug. Zu Hause musste ich meiner Mutter einfach davon erzählen, aber ich wusste nicht, ob sie mich bestrafen würde, denn ich hatte ja einer Lehrerin widersprochen! Doch zu meiner Überraschung lobten mich meine Mutter und auch meine Tante, die während meines tränenreichen Geständnisses ins Zimmer kam. Ich lernte, dass es richtig ist, dem eigenen Gewissen zu folgen, und dass mich mein Gefühl für das, was richtig und falsch war, nicht trog. Ich habe mir damals geschworen, diesem meinem Gewissen immer zu folgen – egal, wer mir etwas befehlen würde.
Den Tschador, den alle Mädchen ab zwölf trugen, durften wir innerhalb der Schule ablegen und konnten uns in unseren Kleidern bewegen. Morgens kamen wir verhüllt in die Eingangshalle, dort zogen wir den Umhang über den Kopf aus. Jedes Mädchen faltete ihren Tschador sorgfältig zusammen und schob ihn in eine Schublade unter ihrem Tisch. Ich mochte es, dass wir dann nicht mehr alle gleich aussahen. Auch war der Stoff des Überhangs schwer und machte mich unbeweglich. Unter dem Schah hatten wir an der höheren Schule auch männliche Lehrer, ihnen begegneten wir innerhalb der Schulmauern unverhüllt. Das schien mir nicht logisch, aber ich war viel zu froh, den verhassten Umhang loszuwerden, um viel darüber nachzudenken.
Besuche in Teheran
Die Unterschiede zwischen Stadt und Land waren im Iran meiner Kindheit gravierend, vor allem in Teheran gab es einen starken westlichen Einfluss auf den Lebensstil. Der Vater meiner Mutter lebte seit seiner Scheidung in Teheran. Er war im Gegensatz zu dem Vater meines Vaters nicht in der kommunistischen Tudeh-Partei, aber er war ein großer Freidenker, ein mit dem Westen sympathisierender Liberaler. Jedes Jahr haben wir die gesamten drei Monate der Sommerferien bei ihm verbracht. Er lebte in einer Wohnung mit seinem Sohn, meinem Onkel, der Physik studierte. In den Sommerferien habe ich in seinen Physikbüchern gestöbert, sah meine Zukunft als Physikstudentin vor mir. Denn meinen Onkel bewunderte ich, er war ein großer attraktiver Mann, der viel lachte und gerne all meine Fragen zu beantworten suchte. Physik war für ihn die
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