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Ich habe abgeschworen

Ich habe abgeschworen

Titel: Ich habe abgeschworen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mina Ahadi , Sina Vogt
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niemand in meinem Zimmer auf mich. Trotzdem fand ich in dieser Nacht kaum Schlaf. Susan war nicht im Wohnheim, sie übernachtete in einer angemieteten Wohnung im Arbeiterviertel der Stadt. Wir hatten uns schließlich einer Organisation angeschlossen, die Programme in den Fabriken durchführten, sie nannte sich »Der dritte Weg«. Mehrere Tage die Woche standen Susan und ich am Fließband einer Textilfabrik und versuchten, in Kontakt mit den Arbeiterinnen und Arbeitern zu kommen, um ihnen die Ideen des Marxismus näherzubringen.
    Am nächsten Tag ging ich zur Universität und erfuhr von Freunden, dass meine Mutter just in der Woche meiner Abwesenheit unangemeldet zu Besuch gekommen war. Ich rief sie sofort an. Susan hatte auch nicht gewusst, wo ich war, auch sie hatte sich schon Sorgen gemacht. Meine Mutter war sehr erleichtert: »Ich war krank vor Angst«, weinte sie. Abends hielt mich der Pförtner im Studentenwohnheim an und erzählte, dass am Abend zuvor zwei Männer nach mir gefragt hätten, sie hätten eine Telefonnummer hinterlassen, die ich anrufen müsste. Mir war klar, wer diese Männer waren, und ich wusste: Ich musste mich bei der Geheimpolizei melden oder in den Untergrund abtauchen. Diese Entscheidung musste ich alleine treffen, schon weil es zu gefährlich gewesen wäre, andere zu Mitwissern zu machen. Schließlich entschied ich mich gegen ein Leben im Untergrund, ohne Kontakt zu meiner Familie, ohne Studium. In dieser Nacht wünschte ich mir sehr, dass ich mich nie politisch engagiert hätte. Dieses Gefühl hatte ich bisher nur zwei- bis dreimal in meinem Leben, ein tiefer, verzweifelter Wunsch nach einem unpolitischen, ungefährlichen, lieber etwas langweiligen Leben. Ich fühlte mich schrecklich einsam und quälte mich durch eine schlaflose Nacht.
    Am nächsten Morgen suchte ich eine Telefonzelle auf und meldete mich bei der Geheimpolizei unter der Telefonnummer, die der Pförtner mir gegeben hatte. Eine männliche Stimme gab mir eine Adresse, dorthin sollte ich am nächsten Tag um 14 Uhr kommen. Bis zum nächsten Mittag blieb ich in meinem Zimmer und hatte große Angst davor, was passieren würde. Die Sekunden erschienen mir endlos, dann wieder raste die Zeit davon. Und schlafen konnte ich wieder kaum. Susan kam an diesem Abend zurück ins Wohnheim und schimpfte mit mir: »Wo bist du gewesen, wir haben uns Sorgen gemacht!« Aber auch ihr konnte ich nichts erzählen, und so antwortete ich ausweichend, bis sie aufgab. Vermutlich ahnte sie, dass ich ihr nichts erzählen konnte, ohne sie durch Mitwisserschaft zu gefährden. Wir lebten in einer Welt, in der Heimlichkeiten zum Überleben gehörten.
    Am nächsten Mittag nahm ich ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse, die mir am Telefon genannt worden war. Wir fuhren durch eine belebte Einkaufsstraße, wo ich eine Kommilitonin mit Einkaufstüten sah. Es war, als wäre mein Leben durch die Scheiben des Taxis abgetrennt von dem Leben der Menschen auf der Straße, die in die Geschäfte gingen oder nach Hause zum Essen. Ich fühlte mich ausgeschlossen, schrecklich allein und wünschte mir, einfach nur eine Passantin zu sein. Ich stellte all meine politischen Entscheidungen in Frage – waren sie denn wert, dafür misshandelt oder gar getötet zu werden?
    Bei der angegebenen Adresse angekommen, sah ich ein Haus mit Gittern vor den Fenstern und einer großen Eisentür am Eingang. Ich bezahlte den Taxifahrer und klingelte. In der Tür ging ein Guckloch auf, ein Mann schaute heraus, und als ich meinen Namen sagte, öffnete er die Tür und ließ mich herein. Ich fühlte mich, als würde ich ein Gefängnis betreten, und kam mir noch verlassener als im Taxi vor. Der Mann führte mich durch verschiedene Gänge in ein Zimmer, eines von vielen Zimmern auf vielen Gängen, wie mir schien. Dann sagte er mir, dass ich warten solle. Im Raum waren ein paar Stühle, sonst nichts. Keine Bilder, nur nackte Steinwände und ein kleines Fenster, das auf den Hof ging. Mich fröstelte, obwohl es nicht kalt war. Ich dachte an meine Mutter, an meine Schwestern, kleine Szenen unserer Kinderspiele fielen mir ein und machten mir das Herz schwer. Ich weiß nicht mehr, ob ich Minuten oder Stunden warten musste, ich hatte jegliches Zeitgefühl unter dieser Klammer, die mein Herz umpresst hielt, verloren. Plötzlich ging die Tür auf, und herein kamen fünf Männer. Ich kann mich an ihre Gesichter nicht mehr erinnern, aber ich weiß, dass ich dachte: »Zwei Riesen und drei zu kurz

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