Ich habe abgeschworen
Wortführer wäre, so würden die anderen auf ihn hören, da er aufgrund seines Alters und seiner Zugehörigkeit zum Betrieb und den Arbeitern eine ganz andere Autorität als ich hatte. Doch ich hatte keine Chance, von ihm überhaupt ernst genommen zu werden. Die Hierarchie unter den Arbeitern war fest und geschlossen. Wir jungen Studentinnen haben es in der kurzen Zeit, ein bis zwei Jahre, in der Fabrik nicht geschafft, Vertrauensbeziehungen aufzubauen. Wir blieben die »anderen«, wir hatten freundliche Kontakte zu einigen Frauen und Männern, aber für linke, marxistische Ideen konnten wir sie nicht begeistern. Selbst wenn sie manchen unserer Analysen der sozialen Ungerechtigkeit zustimmten, aktiv wollten sie nicht werden. Stattdessen kamen wir in Kontakt mit anderen linken Studenten und Studentinnen, die ebenfalls für ihre Organisationen in der Fabrik arbeiteten, und bildeten dort bald eine eigene Subgruppe.
Meinen ersten Mann habe ich während der politischen Arbeit kennengelernt. Esmail Yeganedost hieß er, er studierte Physik. Auch er arbeitete in einer Fabrik, und schließlich lebte ich mit ihm offiziell als Ehepaar in einer Wohnung und Susan mit einem anderen Mann in der Nähe. Wir schrieben Flugblätter in unseren Wohnungen und setzten nachts die Druckerwalze in Gang; diese Flugblätter, ein paar hundert pro Nacht, haben wir dann morgens vor dem Morgengrauen, um vier Uhr, unter den Haustüren im Arbeiterviertel durchgeschoben.
Esmail hatte sich einer gemeinsamen Freundin anvertraut, er habe Interesse an mir. Sie nahm mich daraufhin beiseite und ermunterte mich, ihn näher kennenzulernen. Ich beobachtete ihn und unsere Gespräche nun genauer, und langsam verliebte ich mich. Mir gefielen sein Lachen und seine tiefe ruhige Stimme. In politischen Fragen waren wir uns sehr einig, und er war ein großer, attraktiver Mann. Schließlich schrieb ich ihm einen kurzen Brief: Ich mag Dich. Das schien mir leichter, als es ihm zu sagen oder gar zu warten, bis er die Initiative ergriff. Er kam noch am Abend mit dem Brief auf mich zu, umarmte mich und gab mir einen kurzen Kuss auf den Mund. »Meine schöne Kämpferin«, mit diesen Worten besiegelten wir unser Zusammensein. Keuschheit war dabei für uns beide eine Selbstverständlichkeit. Es war in unseren Köpfen sehr tief verankert, dass Sex in die Ehe gehört. Wir waren traditionell, scheu, verschämt und streng. Drei Monate später beschlossen wir deshalb, zu heiraten. Ich fuhr mit ihm nach Abhar und stellte ihn meiner Mutter vor. Ich sagte: »Das ist der Mann, mit dem ich zusammenleben will, deshalb werden wir heiraten.« Sie protestierte nicht, da sie wusste, dass ich meinen eigenen Willen durchsetzen würde. Meine Mutter bestand aber auf einer Hochzeitszeremonie in Abhar. Mein Mann kam aus Tabriz, aus einer Arbeiterfamilie, und seine Eltern waren schon vor Jahren gestorben. Nach einer Woche in Abhar meinte er zu mir, dass die Frauen meiner Familie so modern seien. Was er damit meine, fragte ich ihn. »Du und deine Mutter diskutieren laut über die Hochzeit, deine Schwester Mahtab läuft zu Hause im Minirock herum. Deine Cousine Modjan hat mir zugezwinkert. Ich muss mir überlegen, ob ich mit dir zusammen sein will. Eine Frau muss doch auch etwas bescheiden sein.« Er war also auch ein linker Mann, der noch traditionell dachte, zumindest in Teilen. Ich habe zwar gesehen, dass die Frauen in meiner Familie zu Hause wirklich recht frei sagten, was sie dachten. Aber ich hielt das nicht für problematisch, sondern vielversprechend.
Unser Dorf hatte inzwischen sogar eine Schuldirektorin. Sie war eine sehr geschätzte unverheiratete Frau, 30 Lehrerinnen und 500 Schülerinnen waren ihr unterstellt. Das blieb auch nicht ohne Auswirkungen auf meine Schwestern und Cousinen. Nicht, dass sie nach außen rebelliert hätten, aber zu Hause sagten sie ihre Meinung und fanden, dass auch die Männer der Familie diese hören sollten.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen, dass Esmail sich noch eine Bedenkzeit ausgebeten hatte. Ich schämte mich, denn wie sollte ich meiner Mutter erklären, dass dieser Mann, den ich als meinen Bräutigam vorgestellt hatte, mich nun vielleicht doch nicht heiraten wollte? Im Nachhinein bin ich eher darüber traurig, wie tief sich auch in mir die Begriffe von Ehre und Schande eingegraben hatten. Ich konnte nicht darüber nachdenken, wie ich seine Einstellung zu Frauen im Allgemeinen und damit zu mir im Besonderen fand, sondern nur: »Hoffentlich bleibt er
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