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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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Vielleicht verstand
ich dann eines Tages die Welt des weißen Mannes gut genug, um sie verlassen zu
können.

Späte
Nachricht von einer Amme
     
    Die Jahre
vergingen, meine Arbeit als Hebamme blieb die gleiche, aber die Verluste meines
Lebens häuften sich. Ich hatte Georgia seit meinem Verkauf an die Lindos in
Charles Town nie wiedergesehen, und eines Tages kam die traurige Nachricht
durch das Fischnetz, dass sie im Schlaf an einem unbekannten Leiden gestorben
sei. Und Fomba, der Mann aus meinem Heimatdorf, war von einer Nachtpatrouille
getötet worden. Fomba war mit seinem Boot fischen gewesen, als die Buckra
riefen, er solle sich identifizieren. Fomba hatte seine Fähigkeit zu sprechen
nie wiedererlangt, und die Patrouille schoss ihm in den Kopf. Statt mit meinen
Enttäuschungen umzugehen zu lernen, hatte ich das Gefühl, dass jede Verletzung
meines Herzens die nächste nur noch schlimmer machte.
    Im Herbst 1774, fast
dreizehn Jahre nachdem ich zu den Lindos gekommen war, tötete eine
Pockenepidemie Mrs Lindo, Dolly, ihre Söhne und etwa zweihundert andere
Bewohner von Charles Town. In unserer Trauer sprachen Solomon Lindo und ich
kaum ein Wort miteinander. Wenn er auf dem Weg ins oder aus dem Haus an mir
vorbeikam, für gewöhnlich in Begleitung eines Mannes aus seiner Synagoge, war
es so, als sähe er mich nicht.
    Durch den Nebel seines
Kummers stolpernd, hatte Solomon Lindo wenigstens Freunde, die ihn besuchten
und ihm zu essen brachten; ich dagegen hatte niemanden, der mich tröstete.
Neger durften mich im Hinterhaus nicht besuchen, und die meisten der Bekannten,
die ich über die Jahre gefunden hatte, waren sowieso nicht mehr da. Sie waren
mit ihren Besitzern verschwunden, die sie mitnahmen, wohin immer es ihnen
gefiel, oder an einem Fieber oder den Pocken gestorben.
    Ich konnte Dolly und
ihren Sohn nicht vergessen, die während meiner langen Jahre in Charles Town
meine beständigsten Begleiter gewesen waren. Dolly hatte sich wie eine Mutter
um mich gekümmert, hatte für mich gekocht und meine Kleider gewaschen, und wann
immer ich ihr etwas von den Dingen schenkte, die ich für meine Arbeit als
Hebamme bekam – eine winzige Schachtel aus Kirschholz oder eine kleine Flasche
karibischen Rum –, strahlte sie mich an wie ein Kind. Sie bewahrte die Flasche
bei ihren alten Schnallenschuhen auf, die sie regelmäßig hervorholte, als sähe
sie nach alten Freunden.
    Dolly war
unbeschreiblich stolz gewesen, mich lesen und schreiben zu sehen. Manchmal,
wenn ich abends hinten in unserem Haus gelesen hatte, hatte sie sich neben mich
gelegt und war mit der Hand auf meinem Arm eingeschlafen. Sie selbst nahm nie
ein Buch in die Hand, saß aber da und sah zu, wie ich ihrem Sohn Samuel das
Lesen beibrachte. Durch unseren meist spätabendlichen Unterricht war er bereits
mit zehn ein guter Leser geworden.
    »Du hass ihm das eine
gegeb’n, was ich ihm nich ge’m kann«, sagte Dolly.
    Mrs Lindo zu verlieren,
war ähnlich schmerzhaft gewesen. Sie hatte in all den Jahren meines Dienstes
nicht einmal die Hand gegen mich erhoben, und ich hatte ihr mehr vertraut als
jedem anderen weißen Menschen. Ihren Sohn David hatte ich umsorgt, als wäre er
mein eigenes Kind gewesen.
    Nachdem Dolly, Samuel
und David gestorben waren, erfasste das Fieber auch Mrs Lindo. Pusteln brachen
überall auf ihrem Körper auf und bereiteten ihr unbeschreibliche Schmerzen, vor
allem an den Fersen und in den Handflächen. Ich pflegte sie, und als ich sah,
wie die Pusteln ineinanderwuchsen und sich in ihrem Gesicht, auf Hals und
Rücken miteinander verbanden, wusste ich, dass sie nicht mehr viel Zeit in dieser
Welt hatte.
    Nach ihrem Tod weinte
ich eine ganze Woche. Ich durfte nicht mit Schiwe sitzen oder mit jemandem im
Haus darüber sprechen, wie sehr ich Mrs Lindo geliebt hatte, sodass die einzige
Möglichkeit, mich von ihr zu verabschieden, darin bestand, jedes einzelne der
Bücher, die sie mir über die Jahre geschenkt hatte, abzustauben und zu
streicheln. Vor langer Zeit hatte sie es sich angewöhnt, mir jeden Monat ein
neues Buch zu schenken, zusammen mit einer Flasche Walöl für meine Lampe. Ich
bewahrte die Bücher in einer Ecke meines Schlafzimmers im Hinterhaus auf, in
dreizehn Reihen, einer für jedes Dienstjahr bei ihr. Es war sicher da oben, ein
Weißer kam niemals zu mir hinauf. Meine eigene kleine Bibliothek hatte ich mir
eingerichtet und mich manchmal durch die langen, einsamen Nächte gelesen,
während Dolly und Sam schliefen.
    Bis

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