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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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bezahlt.«
    »Wo sind wir?«, fragte
ich und deutete auf die Karte.
    »Das ist das britische
Nordamerika«, antwortete er und zeigte auf eine große Landmasse.
    Er fuhr mit dem Finger
an den Rand des Landes, gleich neben einer großen blauen Fläche, die Atlantischer Ozean hieß, und zeigte auf einen Punkt mit dem Namen Charles Town .
    »Und hier«, sagte er,
»ist Afrika.« Auf der anderen Seite des blauen Meeres sah ich eine komisch
geformte Masse, oben breiter, mit einem Bogen in der Mitte und nach unten hin
schmaler.
    »Woher wissen Sie das?«
    »Wenn du genau
hinsiehst, kannst du die Buchstaben erkennen. Siehst du? A-F-R-I-K-A .«
    »Das ist mein Land? Wer
sagt, dass es eine so komische Form hat?«
    »Die Kartografen, die
diese Karten zeichnen. Die Händler, die um die Welt segeln. Die Engländer, die
Franzosen, die Holländer und die anderen, die nach Afrika fahren, die Küste
hinabsegeln und die Form des Kontinents aufzeichnen.«
    Ich betrachtete ein
paar Zeichen auf der Karte in der Form unten offener Dreiecke. Lindo sagte, das
seien Berge. Ich sah einen Löwen und einen Elefanten, die mitten in dieses Land
namens Afrika gemalt waren. Ich sah, dass es fast ganz von Meeren umgeben war.
Aber die Karte sagte nichts darüber, woher ich selbst stammte. Nichts über
Bayo, Ségou oder den Joliba. Nichts, was ich aus meiner Heimat wiedererkannt
hätte.
    »Hier auf dieser Seite
des Wassers, im britischen Nordamerika«, sagte ich und zeigte darauf, »steht Charles Town .
Ich kann sehen, wo wir sind. Aber in Afrika gibt es keine einzige Stadt. Nur
diese Orte am Wasser. Kap Verde. Kap Mesurado. Kap Palmas. Wie sollen wir
wissen, wo die Dörfer sind?«
    »Die Dörfer sind
unbekannt«, sagte Lindo.
    »Ich bin in ihnen
gewesen. Da sind überall Menschen.«
    »Die Leute, die diese
Karte gezeichnet haben, kennen sie nicht. Sieh hier in der Ecke. Da steht 1690 . Das ist
die Kopie einer Karte, die vor dreiundsiebzig Jahren gezeichnet wurde. Damals
wussten sie noch weniger als heute.«
    Ich fühlte mich
betrogen. Jetzt, wo ich so gut lesen konnte, hatte ich es kaum abwarten können,
meinen Heimatort auf einer Karte zu finden. Aber da gab es keine Dörfer, weder
meines noch ein anderes.
    »Gibt es sonst
nichts?«, fragte ich.
    Solomon Lindo sah auf
die Uhr und meinte, wir hätten noch Zeit für eine weitere Karte.
    Karte von Afrika , stand auf der zweiten Karte, die er ausrollte. Korrigiert mit den neuesten und besten Beobachtungen . Ich sah nach dem Datum: 1729 .
Vielleicht war die besser als die erste. Die Karte zeigte ein Land in der Form
eines Pilzes, dessen Stiel nach rechts gedrückt war. Ganz oben sah ich die
Worte: Wüste der Barbaresken oder Zaara , und darunter: Negerland , und
noch ein Stück tiefer, entlang der sich biegenden Küste die Worte Sklavenküste, Goldküste, Elfenbeinküste und Pfefferküste . Mit winzigen Buchstaben waren sie auf
den Rand des Landes gekritzelt. Weiter im Landesinneren gab es nur Zeichnungen
von Elefanten, Löwen und barbusigen Frauen. In einer Ecke der Karte entdeckte
ich ein afrikanisches Kind, das neben einem Löwen lag. So etwas Lächerliches
hatte ich noch nie gesehen. Kein Kind wäre dumm genug, neben einem Löwen zu
schlafen. In einer anderen Ecke der Karte fand ich die Zeichnung eines Mannes
mit einem langschwänzigen Tier auf der Schulter.
    »Was ist das?«, wollte
ich wissen.
    »Das ist ein Affe«,
sagte Lindo.
    Diese Karte von Afrika hatte mit meiner Heimat nichts zu tun. Es war die Fantasie eines weißen Mannes.
    »Es fehlen einige
Einzelheiten«, sagte Lindo, »aber jetzt kennst du die Form deines Landes.«
    Ich sagte, ich hätte
genug. Nach all den Büchern und dem, was ich über die Weißen in Süd-Carolina
wusste, hatte ich mehr als je zuvor das Gefühl, dass diese Menschen nichts von
mir wussten. Sie wussten, wie man meine Heimat mit Schiffen erreichte. Sie
wussten, wie man die Menschen dort stahl. Aber sie hatten keine Ahnung davon,
wie mein Land tatsächlich aussah, wer dort lebte und wie wir lebten.
    Auf dem Weg zurück
erfüllte mich ein Gefühl der Verzweiflung. Ich hatte nicht nur meinen Sohn und
meinen Mann verloren, sondern es schien auch, dass ich nie wieder den Weg nach
Hause finden würde. Ich wollte nicht wie die anderen entlaufenen Sklaven zu den
Indianern oder nach Süden zu den Spaniern. Mich in Sümpfen und Wäldern zu
verstecken würde mich keinen Schritt näher nach Afrika bringen. Meine einzige
Chance bestand darin, zuzuhören, zu lernen und zu lesen.

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