Ich habe mich verträumt
Tonic – was Drinks betraf, war ich nicht sonderlich anspruchsvoll. Nat orderte einen Dirty Martini. „Welchen Wodka bevorzugen Sie?“, fragte der Kellner.
„Belvedere, wenn Sie den haben“, antwortete sie lächelnd.
„Ja, den haben wir. Eine exzellente Wahl“, gab er, offensicht lich beeindruckt, zurück. Lächelnd fragte ich mich, wann meine Schwester gelernt hatte, guten Wodka zu trinken.
Wir unterhielten uns. Natalie erzählte mir von ihrem Team bei Pelli , dem Haus, das sie an der Chesapeake Bay entwarfen, wie sehr sie ihre Arbeit liebte. Im Vergleich zu ihr kam ich mir ein bisschen … nun ja, gewöhnlich vor, schätze ich. Nicht, dass ich das Lehrerdasein nicht erfüllend fand – nein, für mich war es das ganz und gar. Ich liebte die Kinder und meine Fächer und hatte an der Schule mit ihren alten Backsteingebäuden und den ehrwürdigen Bäumen fast ein Gefühl von Heimat. Doch obwohl Natalie sich offenkundig dafür interessierte,wie Dr. Eckhart bei der Fakultätssitzung eingeschlafen war, als ich vorschlug, den Lehrplan zu modernisieren, und wie sauer ich war, dass Ava nie schlechtere Noten als eine Zwei minus gab, schienen meine Neuigkeiten neben ihren zu verblassen.
Plötzlich hörten wir lautes Gelächter. Als wir uns umdrehten, sahen wir eine Gruppe von sechs oder acht Männern aus dem Fahrstuhl in die Bar kommen, und allen voran ging – Andrew.
Ich hatte ihn seit dem Tag der Trennung nicht mehr gesehen, und sein Anblick war wie ein Schlag in die Magengrube. Das Blut wich mir aus dem Gesicht und kehrte mit Übelkeit erregender Geschwindigkeit zurück. In meinen Ohren begann es zu pfeifen, mir wurde erst heiß, dann kalt, dann wieder heiß. Andrew. Nicht sehr groß, nicht richtig gut aussehend, immer noch eher dünn, mit der Brille, die ihm die spitze Nase hinunterrutschte, und dem schmalen, verletzlichen Hals … Mein Körper geriet in schreienden Aufruhr, aber mein Kopf war wie leer gefegt. Andrew lächelte einem seiner Kollegen zu und sagte etwas, und die anderen brachen erneut in Gelächter aus.
„Grace?“, flüsterte Natalie. Ich antwortete nicht.
Da drehte Andrew sich plötzlich um und sah uns – und das, was gerade mit mir passiert war, passierte nun auch ihm. Er wurde weiß, dann rot und riss die Augen auf. Dann zwang er sich zu lächeln und kam zu uns herüber.
„Willst du gehen?“, fragte Natalie. Ich drehte mich zu ihr und sah ohne große Überraschung, dass sie … nun ja … wunderhübsch aussah. Ihre Wangen waren leicht gerötet, nicht wie meine, auf denen man ein Steak hätte braten können. Besorgt zog sie eine fein gezupfte Augenbraue nach oben und griff mit ihren schmalen, perfekt manikürten Händen ohne Nagellack nach meinen.
„Nein! Natürlich nicht. Alles in Ordnung. Hallo Fremder!“ Ich erhob mich.
„Grace“, sagte Andrew, und seine Stimme klang so vertraut, dass ich sie fast als Teil von mir empfand.
„Was für eine nette Überraschung!“, erwiderte ich. „Du erinnerst dich doch an Nat, oder?“
„Natürlich“, sagte er. „Hallo Natalie.“
„Hallo“, hauchte sie tonlos und wandte den Blick ab.
Ich wusste nicht genau, warum ich Andrew bat, er möge sich doch ein paar Minuten zu uns setzen. Er konnte nicht ablehnen. Wir saßen so zivilisiert und nett zusammen, dass es auch ein vornehmes Teetrinken in Windsor Castle hätte sein können. Andrew schluckte, als er erfuhr, dass Nat in derselben Stadt lebte, in der er arbeitete, überspielte es aber gut. Ninth Square, ja, da ist wunderschön restauriert worden. Ach, tatsächlich, bei Pelli, wie aufregend! Lustig, die Welt ist klein. Und du, Grace? Wie läuft’s an der Manning? Nette Schüler dieses Jahr? Toll. Und, äh … geht es deinen Eltern gut? Schön, schön. Margaret und Stu? Prima .
Und so saßen wir da, Nat, Andrew und ich und der Vier-Tonnen-Elefant, der auf dem Tisch tanzte. Andrew plapperte wie ein nervöses Äffchen, und während ich durch das Rauschen in meinen Ohren kaum richtig hören konnte, sah ich alles überdeutlich, als hätte ich bewusstseinserweiternde Drogen genommen. Natalies Hände zitterten ganz leicht, und um es zu verbergen, faltete sie sie keusch unter dem Tisch. Wenn sie Andrew ansah, weiteten sich ihre Pupillen, wobei sie es möglichst vermied, ihn überhaupt anzusehen. Oberhalb des Halsausschnitts ihrer Bluse war ihre Haut gerötet, fast fleckig. Sogar ihre Lippen sahen röter aus. Es war wie eine Live-Dokumentation auf dem Discovery Channel über das Phänomen der
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