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Ich habe sie geliebt

Ich habe sie geliebt

Titel: Ich habe sie geliebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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nie angerufen?«
    Er seufzte.
    »Hast du noch nicht genug?«
    »Nein.«
    »Ich habe natürlich bei ihrer Schwester angerufen, ich bin sogar hingefahren, aber es hat nichts genützt. Der Vogel war ausgeflogen. Um sie zu finden, hätte ich wissen müssen, auf welcher Hemisphäre ich überhaupt suchen soll. Und außerdem hatte ich versprochen, sie in Ruhe zu lassen. Es gibt einen Charakterzug, den man mir trotz allem zugestehen muß. Ich spiele fair.«
    »Das ist ja total bescheuert, was du da sagst. Es ging doch nicht darum, fair zu spielen oder unfair. Ein guter oder schlechter Verlierer zu sein. Was für ein schwachsinniger Gedanke, schwachsinnig und kindisch. Es war ja schließlich kein Spiel – oder? War es denn ein Spiel?«
    Er freute sich.
    »Um dich mache ich mir wahrhaftig keine Sorgen, meine Große. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine hohe Meinung ich von dir habe. Du bist all das, was ich nicht bin, du bist mir hundertfach überlegen, und dein gesunder Menschenverstand wird uns alle retten …«
    »Du bist betrunken, stimmt’s?«
    »Von wegen. Ich habe mich noch nie so gut gefühlt!«
    Er stand auf und hielt sich dabei am Kaminsturz fest.
    »Gehen wir schlafen.«
    »Du bist noch nicht fertig.«
    »Soll ich noch mehr Unsinn reden?!«
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Ich mag schöne Geschichten.«
    »Findest du die Geschichte schön?«
    »Ja.«
    »Ich auch.«
    »Du hast sie noch einmal wiedergesehen, nicht wahr? Im Palais-Royal?«
    »Woher weißt du das?«
    »Du hast es mir selbst erzählt!«
    »Tatsächlich? Habe ich das gesagt?«
    Ich nickte.
    »Gut, das wäre dann der letzte Akt …
    An jenem Tag hatte ich Kunden ins Grand Véfour eingeladen. Françoise hatte alles organisiert. Jahrgangsweine, steife Ober, der ganze Schnickschnack. Ich hatte mitgespielt. Es war längst fällig gewesen. Es war ein langweiliges Essen. Das habe ich schon immer gehaßt. Stundenlang am Tisch zu sitzen, mit Typen zu scherzen, die mir vollkommen egal sind, und mir ihre Geschichten über die Arbeit anzuhören … Außerdem galt ich als Spielverderber, wegen meiner Leber. Ich habe über lange Zeit keinen Schluck Alkohol mehr getrunken und bat die Ober, mir genau zu sagen, was sich in jedem Gericht befand. Na ja, du siehst schon, was für eine Stimmungskanone ich war. Und außerdem mag ich die Gesellschaft anderer Menschen nicht sonderlich. Sie langweilen mich. Seit meiner Schulzeit hat sich daran nichts geändert. Die Angeber sind immer noch die gleichen, die Arschkriecher auch.
    Da stand ich also in diesem Moment meines Lebens, vor der Tür eines Nobelrestaurants, ein wenig schwerfällig, ein wenig gelangweilt davon, einem feisten Zigarrenraucher auf den Rücken zu klopfen und nur auf den Augenblick zu warten, wo ich endlich meinen Gürtel lockern konnte, als ich sie sah. Sie lief schnell, rannte fast und zog einen schmollenden kleinen Jungen hinter sich her. ›Mathilde!‹ flüsterte ich. Ich sah, wie sie blaß wurde. Ich sah, wie ihr der Boden unter den Füßen schwankte. Sie ging nicht langsamer. ›Mathilde!‹ wiederholte ich etwas lauter, ›Mathilde!‹ Und ich rannte davon wie ein Dieb. ›Mathiiilde!‹ Ich schrie fast. Der kleine Junge hatte sich umgedreht.
    Ich lud sie ein, unter den Arkaden einen Kaffee mit mir zu trinken. Sie hatte nicht die Kraft, die Einladung abzulehnen. Sie war noch immer wunderschön. Ich gab mir Mühe. Ich war ein wenig linkisch, ein wenig dumm, machte ein paar Scherze. Es war schwierig.
    Wo wohnte sie? Warum war sie hier? Sie sollte mir von sich erzählen. Sag mir, wie es dir geht? Lebst du hier? Lebst du in Paris? Widerstrebend gab sie Antwort. Es war ihr unangenehm, und sie knabberte an ihrem Kaffeelöffel. Ich hörte ihr sowieso nicht zu, ich hörte ihr nicht länger zu. Ich betrachtete den kleinen blonden Jungen, der alle Brotreste von den Nachbartischen geklaubt hatte und den Vögeln Krumen zuwarf. Er hatte zwei Häufchen gemacht, eins für die Spatzen und eins für die Tauben, und voller Inbrunst herrschte er über diese kleine Welt. Die Tauben durften die Krumen der kleineren Vögel nicht fressen. ›Go away you!‹ schrie er und trat nach ihnen, ›Go away you stupid bird!‹ Als ich mich zu seiner Mutter umdrehte und gerade etwas sagen wollte, schnitt sie mir das Wort ab:
    ›Mach dir keine Gedanken, Pierre, mach dir keine Gedanken. Er ist noch keine fünf, verstehst du?‹
    Ich machte den Mund wieder zu.
    ›Wie heißt er?‹
    ›Tom.‹
    ›Spricht er englisch?‹
    ›Englisch

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