Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
weil plötzlich ein ungeschickter Schnitt kommt und ein Polizeifahrzeug gezeigt wird, das irgendwo im Zentrum von London an einer Horde Reporter vorbeirast. Bonacorsi wird zur Befragung gebracht.
»Der hat die Freiheit nur kurz gekostet«, sage ich.
Sie blenden zurück ins Studio, wo inzwischen der verdattert dreinschauende Vorsitzende des Berufungsausschusses eingetroffen ist. »An solchen Tagen bin ich immer dankbar dafür, dass ich so einen unbedeutenden Job habe«, sagt Sarah, aber sie hört sich doch ein bisschen wehmütig an. »Könnte allerdings sein, dass wir da für Anfragen ans House ein bisschen recherchieren müssen«, fügt sie hinzu. »Opferrechte sind derzeit ein angesagtes Thema.« Ich erwidere darauf nichts, sondern betrachte fasziniert die niedergeschlagene Miene des Mannes, dessen Entscheidungen für die Betroffenen letztlich überlebenswichtig sind. »Also«, fragt Sarah, »was meinst du? Ist Bonacorsi der Täter? War der ganze hemdsärmelige Charme, der da spätabends immer im Fernsehen gezeigt wurde, nur Mache?«
Und auf diese Frage habe ich keine Antwort. Jetzt zeigen sie wieder Paul, der ganz ruhig die Integrität von Inside-Out verteidigt. Langsam lehnt er sich auf dem Studiostuhl mal zur einen, mal zur anderen Seite; ein Gesicht, wie fürs Fernsehen gemacht, mit den passenden Zähnen dazu. Er hat sich vollständig unter Kontrolle. Die Kluft zwischen diesem Bild und dem Mann, der rotz- und blutverschmiert auf dem Küchenboden liegt, ist durch nichts zu überbrücken.
»Der perfekte Auftritt, Kate. Er ist ein Profi«, sagt Sarah voller Bewunderung.
Vor ein paar Jahren hat Paul einen Medien-Trainingskurs absolviert, weil er im Zuge des allgemeinen Interesses an Forwood TV immer häufiger um Interviews gebeten wurde. Theoretisch wurde in dem Kurs gelehrt, die richtige Körpersprache einzusetzen, mit ein, zwei griffigen Formulierungen eine ganze Geschichte zu verkaufen, Fragen auszuweichen und sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Ein Produzent, den ich flüchtig kenne und der mit Paul zusammen in dem Kurs war, hat einmal voller Anerkennung zu mir gesagt, Paul brauche diese Ratschläge alle nicht. So einen guten Teilnehmer hätten sie dort noch nie gesehen, es schien, als beherrsche er einfach schon alles. Er sei eben wie geschaffen für die Kamera. »Er ist der perfekte Lügner«, sage ich schließlich, und Sarah lacht, obwohl ich es gar nicht witzig gemeint habe.
Der Rest des Tages verstreicht ohne etwas, woran ich mich halten könnte. Irgendwann mache ich mich auf zur Schule, um Ava und Josh abzuholen. Im Schneckentempo gehen wir nach Hause; die Kinder streiten, mein Kopf dröhnt. Ungläubig starrt Josh auf mein iPhone, das ich ihm zum Spielen überlasse, um ungestört auf einem Küchenstuhl zusammensacken zu können.
»Machst du mir Zöpfe, Mami?« Ava steht vor mir, dreht sich hin und her und lächelt ihr niedlichstes Bitte-bitte-Lächeln. Ich angle mir eine Flasche Weißen und ein Glas, scheißegal, es ist schon fünf. Wo ist das Problem?
»Heute nicht, Süße, Mami fühlt sich nicht so wohl.« Es ist, als hätte ein Bauarbeiter mir mitgeteilt, dass mein Fundament, das ich für solide, belastbar und im Grunde unerschütterlich gehalten habe, von einem unbekannten Schädling ausgehöhlt und untergraben worden ist und mein geliebtes Zuhause jeden Moment zu Staub zerfallen kann.
Ich schlage Ava vor, sie solle sich verkleiden, und schon hopst sie davon. Ich bin allein in meiner Küche, Herrscherin über ein leeres Reich. Der Wein schmeckt nicht, aber ich schlucke weiter. Mein Leben lang wollte ich Mutter sein. Die Arbeit hat mir zwar auch immer Spaß gemacht; ich habe um Beförderungen und Gehaltserhöhungen gekämpft, mich bei Büroklüngeleien auf der einen oder anderen Seite positioniert, aber dabei ging es nie um eine Karriere, nie um etwas Wichtiges, es waren immer nur Jobs, bevor mein eigentliches Leben beginnen sollte. Nun, da meine Kinder beide in die Schule gehen, wird der Druck, mich anders – neu – zu definieren, immer stärker. Ich weiß, dahinter steckt zu einem gewissen Teil Angst, die Angst, nicht mehr up to date zu sein, an den Rand gedrängt zu werden von veränderten Zeiten und Gepflogenheiten. Paul ist ständig mit neuen, spannenden Ideen konfrontiert. Vielleicht habe ich den Anschluss verloren? Ich kippe noch mehr Wein und kreise weinerlich um mich selbst.
Als ich Ava mit Hackenschuhen von mir die Treppe herunterklappern höre, wische ich meine Tränen
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