Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
einem etwa elfjährigen Mädchen in Shorts und zu großem T-Shirt, das durch flaches Wasser rennt. Bewegung und Lebensfreude machen das Foto aus, das Mädchen strotzt nur so vor jugendlicher Kraft – ein Bild aus der Zeit, als sie noch keine eigenen Meinungen hatte, die sie energisch vertrat.
»Sie ist bildhübsch.«
»Sprechen Sie ruhig in der Vergangenheit. Wir werden uns daran gewöhnen müssen.« Sie glättet ihren Rock mit beiden Händen, und ich spüre, dass es sie große Anstrengung kostet, nicht einfach zusammenzubrechen. »Ich weiß nicht, ob Sie sich nicht vielleicht umsonst hierherbemüht haben; die Polizisten haben alles, was mit ihrer Arbeit zu tun hatte, mitgenommen. Es ist kaum noch etwas hier.«
Ich folge ihr ins Obergeschoss und frage mich, ob ihre erschreckende Sachlichkeit das Korsett ist, das sie daran hindert, buchstäblich auseinanderzufallen. Schweigend und geschmeidig wie eine Katze nimmt sie immer zwei Stufen auf einmal. »Ich habe sie identifiziert. Mir war klar, dass Don das nicht konnte, aber seitdem lassen sie mir keine Ruhe.«
»Wer?«
»Meine Familie. Es ist, als wäre ich über Nacht an Demenz erkrankt und müsste rund um die Uhr betreut werden. Da steckt meine Schwester dahinter. Sie benimmt sich wie eine Hysterikerin. ›Sie braucht Hilfe, Don, Hilfe! ‹ Ich mag meine Schwester noch nicht einmal, und jetzt kommt sie ständig und besucht mich, oder sie schickt ihre grässlichen Kinder. Gleich kommt ihre Tochter, um mir ›Gesellschaft zu leisten‹, um es schmeichelhaft auszudrücken. Mein Leben lang war ich darauf aus, mich von meiner Ursprungsfamilie zu lösen und mir eine eigene zu schaffen, die besser zu mir passt … Das verstehen Sie vielleicht nicht.«
»Das verstehe ich nur zu gut, fürchte ich.«
»Jetzt bedrängen sie mich von allen Seiten, und meine jahrelangen Bemühungen waren für die Katz.«
»So etwas Trauriges habe ich selten gehört.« Das ist mir so herausgerutscht, und ich habe keine Ahnung, ob es vielleicht unpassend war. Mrs. Graham hat mich an einer empfindlichen Stelle getroffen. Auch ich habe Jahre darauf verwandt, mir eine neue Familie zu schaffen, und muss jetzt befürchten, dass sie auseinanderfällt.
»So, da sind wir.« Sie öffnet eine Tür, und wir stehen in Melodys Zimmer. Die Wände sind apfelgrün gestrichen. Kleider, Bücher, DVDs, Ordner – alles ist in offenen Regalen untergebracht. Der große Siebzigerjahre-Schreibtisch mit der schwarzen, intarsienverzierten Platte steht so, dass sie von dort aus in den Garten blicken konnte. Ein Computerkabel baumelt heimatlos in der Luft; ich vermute, dass die Polizisten ihren Laptop mitgenommen haben. An einer Wand hängt ein altes British-Rails-Neonschild, und in der Ecke liegt ein marokkanisch aussehendes Ledersitzkissen. Sie hatte ein schmales Doppelbett, das ich nicht lange anschauen kann.
»Sie war sehr ordentlich …«, hebe ich an, aber Mrs. Graham fällt mir ins Wort.
»Melody? Ganz und gar nicht«, sagt sie und schüttelt den Kopf. »Hier standen überall Ablagefächer, Ordner und Notizbücher herum, die Polizisten haben kaum alles mit einer Fuhre weggekriegt. Nachdem sie weg waren, habe ich ein bisschen aufgeräumt, ein letztes Mal. Wie eine Mutter das eben macht. Das ist alles, was sie dagelassen haben.« Sie reicht mir einen dünnen Ordner. »Sie können natürlich bei der Wache anrufen und fragen, ob die Ihnen geben, was sie nicht mehr brauchen.« Ich schlage den Ordner auf und finde ein paar alte Spesenquittungen. Das ist so enttäuschend, dass es mir schwerfällt, auch nur danke zu sagen.
»Don schafft es nicht hier herein. Er fängt an zu hyperventilieren, der Arme. Aber mir tut es gut. Es riecht nach ihr.«
»Haben Sie irgendeine Vermutung, wer Ihre Tochter ermordet haben könnte?« Mrs. Graham gibt nicht zu erkennen, ob sie die Frage überhaupt gehört hat.
»Wollen Sie sich ein paar von Dons geliebten Rosen anschauen? Die frühen Sorten fangen gerade an zu blühen.«
Wir gehen wieder nach unten und durchqueren ein Esszimmer, das aussieht, als würde es selten genutzt. Von dort führt eine Verandatür in den Garten. Auf dem Tisch liegen ordentliche Stapel von Post, Rechnungen und diversen anderen Papieren; auf der Anrichte wächst ein Turm aus alten Guardian -Ausgaben. Ein unförmiger alter Computer fällt mir auf, der offenbar dauerhaft auf dem Esstisch steht. »Hat Melody auch manchmal an diesem Rechner gearbeitet?«
»Ja, das hat sie. Gerade in letzter Zeit hat
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