Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
sehr sicher.«
»Es ist die einzige Erklärung, die ich akzeptieren kann.« Von ferne ist die Türklingel zu hören, und Mrs. Graham stöhnt. »Das ist bestimmt meine Nichte, die ihre Überwachungsschicht antreten will. Sie sieht den ganzen Tag fern und schnappt dabei einen Haufen Müll auf.«
»Warum meinen Sie, dass es jemand war, den sie nicht gekannt hat?«
Sie zögert. »Don ist Wissenschaftler. Er beschäftigt sich mit Krebszellen. Melody dagegen … Dabei war sie klug, hätte ebenso gut Ärztin oder Anwältin werden können, etwas tun können, das den Menschen wirklich hilft. Mir haben die Sendungen, die sie sich da ausgedacht hat, nicht gefallen. Ich konnte ihre Träume nicht nachvollziehen. Sie hat sich für eine oberflächliche … wenn nicht gar dumme Sache ins Zeug gelegt.« Sie hält kurz inne. »Es war ein Fremder. Irgendein Verrückter.« Ihr Ton wird hart und verrät doch, wie sehr sie an sich halten muss, wie es in ihr brodelt. »Ich weigere mich zu glauben, dass sie wegen Inside-Out oder irgendeiner anderen Reality-TV-Produktion sterben musste. So war es nicht. Das kann nicht sein. Es ist so schon furchtbar genug.«
»Und was kam sonst noch vor in ihrem Leben – Freunde, Männer?«
»Hatte sie nicht. Sie hat gearbeitet und sonst gar nichts.«
»Soweit Sie wissen?«
»Darauf sind die Polizisten auch ewig herumgeritten, so als wären wir hier in irgendeinem garstigen Fünfzigerjahre-Stück. Ich bin in den Fünfzigern aufgewachsen – wir hatten damals Geheimnisse. Sie hat zu Hause gewohnt, weil sie es so wollte. Sie hat für eine eigene Wohnung gespart und wollte kein Geld für Miete verplempern. Sie hat über alles mit uns geredet, Drogen, Sex, was immer Sie wollen. Uns kann heute nichts mehr schocken. Was für Geheimnisse gibt es denn noch?«
Mrs. Graham mit ihren Gewissheiten nötigt mir Hochachtung ab, aber sie irrt sich. Es gibt so viele Geheimnisse. Zum Beispiel bezweifle ich, dass es sie freuen würde zu hören, dass ihre Tochter sich mit einem verheirateten Mann getroffen hat. Und ich verschone sie damit. Wer einen Verlust erlitten hat, dem wird von seinen Nächsten ein Sonderstatus zuerkannt: Er wird respektiert und gefürchtet zugleich. Wieder klingelt es an der Tür, energischer diesmal. Mir läuft die Zeit davon. »Ich muss sowieso gehen. Soll ich aufmachen?«
»Wenn Sie so nett wären …«
»Natürlich.«
An der Tür begegne ich einer großen, braungebrannten Frau in hochhackigen Stiefeln. Wir geben einander die Hand, und sie sagt, sie sei eine Cousine von Melody.
»Geht’s ihr gut?«, flüstert sie und späht an mir vorbei ins Innere des Hauses.
»Ich weiß nicht, ob ich das beurteilen kann.«
»Meine Mutter sagt, sie hat noch kein einziges Mal geweint. Nicht ein Mal.« Ein Rinnsal aus Mascara läuft ihr über die Wange. »Das ist doch nicht normal, oder?« Sie streift mit einem manikürten Finger an ihrem unteren Lid entlang und untersucht anschließend den Finger auf Mascaraspuren. »Ich meine, wie soll ich um Melody trauern, wenn sie noch nicht einmal ihre eigene Tochter beweint?«
»Trauer kennt keine Hierarchie.«
»In dieser Familie schon«, erwidert sie und schnieft.
Ich drücke ihr meine Packung Taschentücher in die Hand und mache mich auf den Weg zur U-Bahn. Sowie ich um die Ecke bin, checke ich mein Handy. Da waren ein paar Anrufe, und ich habe eine SMS von Livvy. »Wo bist du?« Ich renne los. Ich muss dringend zurück.
25
A ls ich im Büro ankomme, hat Livvy schon vergessen, dass sie sich bei mir gemeldet hat. Mit einem energischen Pferdeschwanzwippen gibt sie mir zu verstehen, dass ich sie in Ruhe lassen soll, und greift nach dem Telefon. Die folgenden Stunden vergehen wie im Fluge, und als es dunkel wird, klappt einer nach dem anderen seinen Laptop zu und schnappt sich Mantel und Tasche. Ich mache auch Schluss. Ich fange an aufzuräumen und wische mit einem Tuch über meine Tastatur. Shaheena, die auf dem Weg zur Tür an mir vorbeikommt, sagt: »Das machen die Putzfrauen, weißt du?« Ich nicke verlegen. Alte Gewohnheiten sind zäh. Ich gehe als Letzte. Das schlechte Gewissen wegen meiner langen Mittagspause hat mich länger an den Schreibtisch gekettet, als nötig gewesen wäre. An der Tür angelangt, mache ich alle Lichter aus. Selbst der Flur ist jetzt dunkel. Blind taste ich mich in der fremden Umgebung voran, und irrationale Panik streckt die Fühler nach mir aus. Dieses Gebäude ist mir einfach nicht geheuer. Ich bin heilfroh, als ich
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